Mindestens ein Zehntel der Weltbevölkerung war unterernährt, das sind 811 Millionen

 

Aus: Ausgabe vom 14.07.2021, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Gestiegene Preise

Millionenfacher Hunger

UN-Bericht: Pandemie wirft Schlaglicht auf eine Dauerkrise. 2020 ein Zehntel der Weltbevölkerung unterernährt
Von Gerrit Hoekman

Nahrungsmittelverteilung: Krieg und Hunger setzten und setzen besonders Menschen in Jemen zu

Der Hunger in der Welt hat sich im Jahr 2020 dramatisch ausgebreitet. Das
geht aus dem aktuellen Bericht »Der Stand der Ernährungssicherheit und
Ernährung in der Welt 2021« hervor, den fünf Organisationen der UN am
Montag gemeinsam veröffentlichten. Alarmierende Bilanz: Mindestens ein
Zehntel der Weltbevölkerung war unterernährt, das sind 811 Millionen
Menschen – darunter viele Kinder.

»Die Zahl deutet darauf hin,
dass die Welt enorme Anstrengungen unternehmen muss, um ihr Versprechen
einzuhalten, den Hunger bis 2030 zu beenden«, heißt es in einer
Pressemitteilung zu dem Bericht. Das Ziel werde vermutlich um rund 660
Millionen Menschen verfehlt. Das kann allerdings nur jene überraschen,
die ernsthaft an die Einlösung der Ansage geglaubt haben. Nur etwa 30
Millionen können mit den wirtschaftlichen Auswirkungen der
Coronapandemie in Verbindung gebracht werden, schätzt der Bericht.

Pandemie verschärft Krise

Durch die Pandemie sind die Preise für Lebensmittel stark gestiegen,
besonders in Afrika, aber auch im Mittleren Osten. Die Weltbank schätzt,
dass die Coronakrise bis Ende 2021 weltweit 97 Millionen Menschen in
extreme Armut treiben könnte. »In vielen Teilen der Welt hat die
Pandemie brutale Rezessionen ausgelöst und den Zugang zu Nahrungsmitteln
gefährdet«, so die Pressemitteilung.

Aufgrund des weltweiten Preisanstiegs zum Beispiel bei Erdöl, Weizen oder Mais müssen viele
Länder im Trikont ihre Importe teurer bezahlen, während die Einnahmen
nicht wachsen. »Hohe Preise für Nahrungsmittel sind der neue beste
Freund des Hungers«, sagte der Chefökonom des Welternährungsprogramms
(WFP) der Vereinten Nationen, Arif Husain, am Donnerstag. Wirklich neu
ist dieser Zusammenhang nicht. Er ist vielmehr so alt wie der
Kapitalismus. Steigende Preise führten schon immer zu darbenden
Menschen. Kommen dann noch Krieg, Dürren oder Überschwemmungen und
Wirtschaftskrisen hinzu, die nichts mit der Pandemie zu tun haben, ist
die humanitäre Katastrophe programmiert.

  

2,3 Milliarden Menschen verfügten 2020 nicht ständig über
ausreichende Nahrung. »Dieser Indikator – bekannt als Prävalenz
mittlerer oder schwerer Ernährungsunsicherheit – sprang in einem Jahr so
stark wie in den vorangegangenen fünf kombiniert.« Die Gefahr für
Frauen ist dabei größer als für Männer. Fast ein Drittel der Frauen im
gebärfähigen Alter leidet an Anämie. Die Folgen sind für Kinder aber
ungleich schlimmer als für Erwachsene. »Im Jahr 2020 waren
schätzungsweise über 149 Millionen Kinder unter fünf Jahren zu klein für
ihr Alter, über 45 Millionen zu dünn.«

»Leider legt die Pandemie
weiterhin Schwächen in unseren Ernährungssystemen offen, die das Leben
und die Existenz von Menschen auf der ganzen Welt bedrohen«, ­schreiben
die Leiter der fünf UN-Agenturen im Vorwort zum diesjährigen Bericht.
Schwächen, die zweifellos auch ohne Pandemie bekannt sein sollten.

Mehr als die Hälfte der unterernährten Menschen (418 Millionen) lebt in
Asien, 282 Millionen sind es in Afrika und 60 Millionen in Lateinamerika
und in der Karibik. Setzt man die Zahlen aber in Relation zur
Gesamtbevölkerung der Kontinente, ist Afrika am schwersten betroffen: 21
Prozent haben nicht genug zu essen – doppelt so viele wie in jeder
anderen Region der Erde.

Libanon besonders betroffen

Laut dem »Marktmonitor« des WFP verzeichnet der Libanon aktuell den höchsten
Preisanstieg weltweit. Dort kostete Mehl im vergangenen Jahr um 219
Prozent mehr als zuvor. Das bedeutet auch Brot ist teurer geworden, das
Grundnahrungsmittel schlechthin in der arabischen Welt. Ein Anstieg der
Brotpreise führte in der Vergangenheit in vielen Ländern des Nahen und
Mittleren Ostens sowie in Nordafrika zu Revolten der Bevölkerung. Die
Kosten für den berühmten »Warenkorb« stiegen auf 131 Prozent. Der
Libanon erlebt die schlimmste Finanz- und Wirtschaftskrise seit dem Ende
des Bürgerkriegs 1990.

In Afrika sind in Mosambik die Preise am
stärksten gestiegen. Weltweit liegt das Land hinter dem Libanon und
Syrien in dem Ranking an dritter Stelle. Auch in Mosambik herrscht in
einem Teil des Landes Krieg: Eine radikal-islamische Miliz marodiert im
Norden. Von März bis Mai 2021 stieg der Preis für Maniokmehl um 45
Prozent im Vergleich zu den drei Monaten vorher.

In manchen Ländern hat eine Währungsabwertung die lokalen Lebensmittelpreise weiter
in die Höhe getrieben. Das betraf zum Beispiel Simbabwe, Syrien,
Äthiopien und Venezuela. In Nigeria hat nach Angaben der Weltbank die
hohe Inflation sieben Millionen Menschen in die Armut gestürzt,
berichtete AFP am 2. Juli. In Argentinien setzte die Regierung
Mitte Mai den Import von Rindfleisch für einen Monat aus, als die
Inflation die Lebensmittelpreise in die Höhe trieb. »Die Preise steigen,
aber gleichzeitig gibt es wegen Covid weniger Einkommen«, zitierte AFP Arif Husain.

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