Jugendämter in der Krise

 

Jugendämter in der Krise

Die Zahl der Kindeswohlgefährdung erreichte 2023 einen neuen Höchststand. Gleichzeitig führen Platznot und Fachkräftemangel zu einer Überlastung. Die Folgen sind dramatisch, zeigt eine Recherche.

DÜSSELDORF/DORTMUND | (dpa) Immer mehr Fälle von Kindeswohlgefährdung werden bekannt – zugleich fehlt in vielen Jugendämtern Personal. Und die Unterbringungsmöglichkeiten für schutzbedürftige Minderjährige reichen bei Weitem nicht. Experten sind besorgt. Sozialpädagogin Gabriele Flößer vom Kinderschutzbund betont: „Ganz deutlich muss darauf hingewiesen werden, dass angesichts des Personal-, Fachkräfte- und Platzmangels die den Kindern und Jugendlichen zugesicherten Rechte auf Schutz, Förderung und Beteiligung nicht vollumfänglich gewährleistet werden können.“

Auch zahlreiche Jugendämter in Deutschland sehen unzureichende Bedingungen, wie eine WDR-Befragung offenlegt. Von Gewerkschaftsseite kommen ebenfalls Kritik und Forderungen an die Politik.

Man beobachte mit großer Sorge die seit Jahren steigenden Zahlen zu Fällen von Kindeswohlgefährdung, sagt Flößer, Vorsitzende des Kinderschutzbunds in NRW. Aktuelle Studien zeigten zugleich, dass einzelne Mitarbeitende des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) im Jugendamt viel zu viele Einzelfälle zu bewerten hätten, was Arbeitszeiten überschreite und belaste. Folgen könnten „weniger gelungene Gefährdungseinschätzungen und Dokumentationen“ oder Bearbeitungsstaus sein, schildert die Professorin für Sozialpädagogik an der Uni Dortmund der Deutschen Presse-Agentur.

Flößer zufolge ist die Lage der Unterbringungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen unübersichtlich, „weil diese nicht nur von der öffentlichen Jugendhilfe, sondern überwiegend von freien Trägern bereitgestellt werden.“ Fakt sei, „dass die Anzahl der Anfragen nach geeigneten Plätzen die vorhandenen deutlich übersteigt und es auch hier zu dramatischen Entscheidungen kommt.“ Die Suche nach freien Plätzen laufe inzwischen bundesweit, sodass Kontakte zur Herkunftsfamilie oder wohnortnahe Aktivitäten nahezu ausgeschlossen seien.

Mit 63.700 bestätigten Fällen erreichte die Zahl der Kindeswohlgefährdungen im Jahr 2023 laut Statistischem Bundesamt einen neuen Höchststand. Kindeswohlgefährdung kann Vernachlässigung, psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt sein. Tatsächlich dürften die Zahlen aber deutlich höher liegen, da laut Bundesamt nicht alle Jugendämter Daten für 2023 melden konnten – zum Teil auch, weil das Personal dort überlastet war. Im bevölkerungsreichsten Bundesland NRW hält der steigende Trend ebenfalls an.

Gut die Hälfte der vom WDR befragten 300 Jugendamtsleitungen hatte angegeben, das Gefühl zu haben, unter den derzeitigen Bedingungen Kinderschutz nicht immer gut gewährleisten zu können. In jedem zehnten Amt kam es demnach wegen Personal-, Geld- oder Platznot schon zur Gefährdung von Kindern oder Jugendlichen. Weil es zu wenig Unterkünfte gebe, müssten Kinder oder Jugendliche manchmal länger als angebracht in ihren Familien bleiben. Einige Behörden gaben dem Sender zufolge an, dass Minderjährige in den Räumen des Amts übernachten mussten.

Im bevölkerungsreichsten Bundesland habe man den Kinderschutz strukturell gestärkt und unterstütze Kommunen und Jugendämter, sagt Familienministerin Josefine Paul auf dpa-Anfrage. Mit dem Landeskinderschutzgesetz habe NRW neue Standards gesetzt, die den Kinderschutz verbessern. „Wir wissen aber auch um die großen Herausforderungen, vor denen nicht zuletzt die Kinder- und Jugendhilfe steht.“ Der Fachkräftemangel treffe die Jugendämter stark. Die Landesregierung unterstütze die für die Jugendämter zuständigen Kommunen auch finanziell und bei der Personalgewinnung, betont eine Ministeriumssprecherin.

Verdi moniert: „Familien, Kinder und Jugendliche bekommen nicht die bedarfsgerechte Unterstützung, die sie dringend brauchen.“ Der Alltag in den Jugendämtern sei auch von „überbordender Bürokratie geprägt“. Für präventive Arbeit bleibe keine Zeit mehr. Die Arbeitsfähigkeit der Jugendämter sei massiv gefährdet, warnt Gewerkschaftssekretär Philipp Stewart.

Die Regierung müsse die Arbeitsbedingungen mit Sofortmaßnahmen verbessern, um wieder mehr qualifizierte Fachkräfte zu gewinnen und langfristig zu halten. Laut Kinderschutzbund könne eine Fachkräfteoffensive nur erfolgreich sein, wenn die Arbeitsbedingungen und Belastungen kritisch unter die Lupe genommen würden.

https://rp-online.de/nrw/panorama/jugendaemter-ueberlastet-kinder-in-not...