Europa droht die soziale Spaltung. Erster vergleichender Gerechtigkeitsindex für alle 28 EU-Staaten

Pressemeldung
Gütersloh, 15.09.2014

Europa droht die soziale Spaltung

Erster vergleichender Gerechtigkeitsindex für alle 28 EU-Staaten:
Deutschland mit Verbesserungen auf Platz 7 – Zunehmendes Gefälle
zwischen Nord- und Südeuropa sowie zwischen Alt und Jung – Europäische
Sozialstrategie nötig

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Europa macht leichte Fortschritte bei der
wirtschaftlichen Stabilisierung, das Niveau an sozialer Gerechtigkeit
aber hat in den letzten Jahren in den meisten EU-Staaten abgenommen.
Dabei hat sich die soziale Schieflage zwischen den wohlhabenden Staaten
Nordeuropas und zahlreichen süd- und südosteuropäischen Ländern im Zuge
der Krise deutlich verschärft. Während in Schweden, Finnland, Dänemark
und den Niederlanden nach wie vor ein hohes Maß an sozialer Teilhabe
verwirklicht ist, hat die soziale Ungerechtigkeit in Ländern wie
Griechenland, Spanien, Italien oder Ungarn zugenommen. Vor allem in den
Krisenstaaten der EU ist es nicht gelungen, die teils massiven
Einschnitte sozial gerecht aufzuteilen. Dies ist das Ergebnis eines
ersten vergleichenden Gerechtigkeitsindex für alle 28 EU-Staaten, den
die Bertelsmann Stiftung heute veröffentlicht.

Als besonders kritisch sieht die Analyse neben dem
Nord-Süd-Gefälle auch ein wachsendes Ungleichgewicht zwischen den
Generationen: Danach sind jüngere Menschen tendenziell stärker von
sozialer Ungerechtigkeit betroffen als ältere. 28 Prozent der Kinder und
Jugendlichen sind EU-weit inzwischen von Armut oder sozialer
Ausgrenzung bedroht, deutlich mehr als noch 2009 (26,1 Prozent). Im
Gegensatz dazu ist die Altersarmut in manchen Ländern zurückgegangen.
"Die wachsende soziale Kluft zwischen den Mitgliedstaaten und zwischen
den Generationen kann zu Spannungen und einem erheblichen
Vertrauensverlust führen. Sollte die soziale Schieflage andauern oder
sich weiter verstärken, gefährdet dies die Zukunft des europäischen
Integrationsprojekts", so Stiftungsvorstand Dr. Jörg Dräger.

Im Vergleich dazu hat Deutschland hingegen geschafft, was kaum
einem anderen EU-Staat während der Krise seit 2008 gelungen ist: Die
soziale Gerechtigkeit ist gestiegen. Der leichte Aufwärtstrend geht
insbesondere auf die robuste Entwicklung am Arbeitsmarkt zurück, drückt
sich aber auch in anderen Bereichen wie Bildung, Integration oder
Gesundheit aus. Trotz der zu beobachtenden Verbesserung und einem
siebten Gesamtplatz unter allen 28 EU-Staaten erreicht die größte
Volkswirtschaft Europas allerdings in vielen wichtigen Bereichen nur
eine Platzierung im Mittelfeld.

Am Arbeitsmarkt schlägt positiv zu Buche, dass die
Langzeitarbeitslosigkeit in den vergangenen Jahren reduziert werden
konnte. Deutschland hat zudem mit 7,9 Prozent EU-weit die geringste
Jugendarbeitslosigkeit, und auch die Erwerbsintegration älterer
Arbeitnehmer ist in den vergangenen Jahren erheblich gestiegen. Im
Bildungsbereich zeigen sich ebenfalls leichte Verbesserungen: So ist die
Quote frühzeitiger Schulabgänger seit 2007 von 12,5 auf 9,9 Prozent
gesunken. Beim europäischen Vergleich zur "Bildungsgerechtigkeit" komme
Deutschland aber dennoch nicht über einen 14. Rang hinaus, so die
Studie. Der Zusammenhang zwischen sozialem Hintergrund und
Bildungserfolg sei noch immer viel zu groß. Diese Chancenungleichheiten
gelte es abzubauen, zum Beispiel durch weitere Investitionen in
qualitativ hochwertige frühkindliche Bildung. Im Bereich Gesundheit
(Rang 10) punktet Deutschland zwar durch die hohe Qualität der
medizinischen Versorgung, dennoch ist die Anzahl der hierzulande zu
erwartenden "gesunden Lebensjahre" im EU-Vergleich unterdurchschnittlich
(Rang 23). Schließlich sei auch das Auseinanderdriften der Einkommen in
den vergangenen Jahren wieder etwas zurückgegangen. Allerdings liegt
Deutschland hier weiterhin nur auf Rang 13.

Trotz der relativen Verbesserungen in einigen Teilbereichen sieht die
Studie für Deutschland noch erhebliches Verbesserungspotential. Jörg
Dräger verweist beispielhaft auf die noch immer bestehenden
Herausforderungen am Arbeitsmarkt: "Deutschland muss in Zukunft größere
Anstrengungen unternehmen, um seine wirtschaftliche Stärke in mehr
soziale Gerechtigkeit zu übersetzen. Die Verfestigung eines
zweigeteilten Arbeitsmarktes ist kritisch. Deutschland sollte
insbesondere die Übergänge von atypischer Beschäftigung zu
Normalarbeitsverhältnissen erleichtern", so Dräger. Die Einführung eines
gesetzlichen, flächendeckenden Mindestlohns sei dabei ein erster
korrektiver Schritt.

Eine grundlegende Erkenntnis der Vergleichsstudie für alle EU-Staaten
sei, dass wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zwar eine wichtige
Voraussetzung, aber auch kein automatischer Garant für soziale
Gerechtigkeit sei. Das Thema soziale Gerechtigkeit sollte daher nach
Ansicht der Stiftung künftig deutlich stärker ins Zentrum der
europäischen Politik rücken. Die EU dürfe nicht nur als Hüter
wirtschaftlicher Stabilität wahrgenommen werden. Sie sollte künftig eine
integrierte Strategie entwickeln, die neben der bisherigen
Wachstumsperspektive auch erstmals eine konsistente und vollständige
Politik zur Bekämpfung sozialer Ungerechtigkeit umfasst. Für die
Mitgliedstaaten wiederum müsse es noch mehr darauf ankommen, die
richtigen Weichenstellungen zwischen weiterhin notwendiger
Haushaltskonsolidierung und wichtigen Zukunftsinvestitionen vorzunehmen.
Denn Investitionen in die Teilhabechancen sind nicht nur aus Gründen
der sozialen Gerechtigkeit sinnvoll. Sie sind auch für das
Innovationspotential eines Landes unerlässlich.

Zum Projekt
Mit dem neuen EU-Gerechtigkeitsindex
untersucht die Bertelsmann Stiftung anhand von 35 Kriterien sechs
verschiedene Dimensionen sozialer Gerechtigkeit: Armut, Bildung,
Arbeitsmarkt, Gesundheit, Generationengerechtigkeit sowie
gesellschaftlicher Zusammenhalt und Nicht-Diskriminierung. Die Stiftung
wird zukünftig jährlich die Entwicklung der Teilhabechancen in den 28
EU-Staaten analysieren. Der Gerechtigkeitsindex wird demnächst zudem
durch das EU-Reformbarometer ergänzt, das die konkreten Reformbemühungen
der Mitgliedstaaten in den einzelnen Teilbereichen sozialer
Gerechtigkeit abbilden wird. Der "Gerechtigkeitsindex" und das
"EU-Reformbarometer" bilden gemeinsam den "Social Inclusion Monitor
Europe" (SIM).

http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/SID-D4DC9C7D-58F7DBAB/bs...