Steigende Preise, unzureichende Hilfe: Sozialverbände warnen vor armutsbedingten »Kollateralschäden«

 

Aus: Ausgabe vom 02.06.2020, Seite 5 / Inland

Armutspolitik in der BRD

Existenznot immer größer

Steigende Preise, unzureichende Hilfe: Sozialverbände warnen vor armutsbedingten »Kollateralschäden«

Von Susan Bonath

 

 

Karl-Josef Hildenbrand/dpa

Oft fehlt es Alleinerziehenden und den Kindern am Nötigsten – die Coronakrise verschärft deren Lage weiter (Kaufbeuren, 17.4.2020)

Nach dem Coronavirus breitet sich krisenbedingt die Armut aus. Der Kapitalismus weiß dem wenig entgegenzusetzen. Auch in Deutschland wird es für viele eng: Die Preise steigen, die Erwerbslosigkeit wächst, Behörden sind schwer erreichbar, und die Grundsicherung reicht oft nicht mehr, um damit von Monat zu Monat zu kommen. Existentielle Notlagen häufen sich. Sozialverbände schlagen deshalb erneut Alarm.

»Die Hartz-IV-Sätze sind grundsätzlich zu niedrig«, mahnte am Pfingstsonntag der Präsident des Deutschen Caritasverbandes, Peter Neher, gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Sein Verband habe berechnet, dass Bezieher von Hartz IV und Sozialhilfe »etwa 70 bis 80 Euro mehr bekommen müssten«, so Neher. Betroffene seien schon vor der Coronapandemie »mehr schlecht als recht über die Runden gekommen«, erläuterte er. Nun fehle ihnen auch Geld für zusätzliche Bedarfe wie Schutzmasken, Hygieneutensilien und Technik für den Unterricht der Kinder zu Hause. Schüler litten besonders unter ihren Lebensbedingungen. »Wenn ein Kind in einer adäquaten Wohnsituation lebt und lernt, ist das etwas völlig anderes, als wenn es sich in einer beengten Umgebung befindet«, sagte Neher.

Auch halten viele Menschen die Grundsicherungssätze für unzureichend. Einer Umfrage des Forschungsinstituts Forsa im Auftrag des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zufolge denken 80 Prozent, dass von den gegenwärtigen Hartz-IV-Sätzen niemand würdig leben kann. Demnach wären etwa 728 Euro ohne Wohnkosten monatlich nötig, um die Grundbedürfnisse alleinstehender Erwachsener zu decken. Ihnen gesteht der Staat derzeit 432 Euro zu. Damit muss alles außer der Miete finanziert werden. Für Nahrung stehen einem Alleinstehenden insgesamt zum Beispiel 150 Euro zu, 38 Euro für Strom und Instandhaltung der Wohnung. Die Sätze für Kinder sind noch niedriger. Unter Sechsjährige sollen von 87 Euro einen Monat ernährt werden. Für Kleidung stehen ihnen 22 Euro zu, für Gesundheitspflege neun Euro.

Der Hauptgeschäftsführer des Verbandes, Ulrich Schneider, wies darauf hin, dass zum Zeitpunkt der Umfrage Anfang März die coronabedingten Mehrausgaben noch nicht berücksichtigt worden waren. Die aktuellen Sätze für Hartz-IV- und Sozialhilfebezieher seien »trickreich kleingerechnet, lebensfern und in keiner Weise bedarfsgerecht«, kritisierte er nach der Veröffentlichung der Ergebnisse vergangenen Donnerstag und erneuerte seine Forderung nach einem »Konjunkturprogramm gegen Armut«.

Indes zeigen Daten des Statistischen Bundesamtes, dass die Preise im April drastisch angezogen haben. Insbesondere Lebensmittel wurden demnach teurer. Allein für ihr Essen hätten Menschen 4,6 Prozent mehr als im Vorjahresmonat ausgeben müssen. Obst und Gemüse habe sich sogar um elf Prozent binnen Jahresfrist und um 5,6 Prozent im Vergleich zum Vormonat März verteuert, meldete das Amt Mitte Mai.

Das alles sorgt immer häugiger für existentielle Notlagen, wie das bundesweite Erwerbslosenbündnis »Auf Recht bestehen« vergangene Woche warnte. Dabei sei es für Betroffene immer schwieriger, Hilfe zu erhalten. Neue Anträge auf Grundsicherung würden häufig auf die lange Bank geschoben. Mancherorts sei es unmöglich, Sachbearbeiter zu erreichen oder über die Hotline hilfreiche Auskünfte zu erhalten, sagte Bündnissprecher Rainer Timmermann. Sein Mitstreiter Frank Jäger ergänzte: »Wenn die Leistungsabteilung für Kunden geschlossen ist, vergehen oft Wochen und Monate, bis Notlagen per Telefon, E-Mail oder Post behoben werden.« Ihr Versprechen auf unbürokratische Hilfe habe die Regierung damit nicht eingelöst.

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