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URTEIL / Paar klagte gegen Zahlungsverweigerung. Arbeitsagentur hält es für nicht mittellos. Vermutungen über ein eventuell vorhandenes Vermögen reichen nicht aus, um möglichen Empfängern des Arbeitslosengeld II die Leistungen zu verweigern. Das hat jetzt das Düsseldorfer Sozialgericht entschieden und gab der Klage zweier Arbeitsloser Recht. Ihnen waren Zahlungen nach den neuen Regelungen verweigert worden, da sie ihre Mittellosigkeit nach Ansicht der Bundesagentur für Arbeit nicht eindeutig genug hatten belegen können. Zudem warf man ihnen vor, sich mit Hilfe falscher Angaben bereits Sozialhilfe-Leistungen erschlichen zu haben. Das Gericht nahm die Behörde in die Pflicht: Man habe den Betroffenen nicht eindeutig genug erklärt, welche Belege sie etwa hätten beibringen müssen, um ihre schlechte finanzielle Situation klar zu machen. Bis die Vermögensfrage eindeutig geklärt sei, stünden dem Paar 80 Prozent des Arbeitslosengeldes zu. (tan)
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ARBEITSLOSENGELD II
Partnereinkommen zählt in "wilden Ehen" nicht
Hamburg · 20. Februar · ap · Bei unverheirateten Paaren darf das Einkommen und Vermögen eines Partners nicht zur Berechnung des Arbeitslosengeldes II des anderen herangezogen werden. Das entschied das Sozialgericht Düsseldorf in einer einstweiligen Anordnung, berichtete Bild am Sonntag . Das Gericht erkannte einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz der Verfassung. Die Anrechnung von Vermögen und Einkommen bei nicht verheirateten heterosexuellen Paaren sei verfassungswidrig, weil sie bei homosexuellen Paaren nach Hartz IV nicht vorgesehen sei, zitierte die Zeitung das Gericht.
"Not- und Wechselfälle des Lebens"
Mit der bislang nicht veröffentlichten Anordnung habe das Gericht die Arbeitsagentur gezwungen, einer arbeitslosen Frau Arbeitslosengeld II zu zahlen. Dies hatte die Behörde zuvor mit dem Argument abgelehnt, der mit der Frau zusammenlebende berufstätige Mann müsse sie unterstützen.
Darüber hinaus erklärte das Gericht die bisher praktizierte Anrechnung von Partnereinkommen in nichtehelichen Lebensgemeinschaften für rechtswidrig. Angerechnet werden könne nur, "wenn zwischen den Partnern so enge Bindungen bestehen, dass von ihnen eine gegenseitiges Einstehen in den Not- und Wechselfällen des Lebens erwartet werden kann". Davon könne aber nicht in jeder "wilden Ehe" ausgegangen werden.
Az: S 35 SO 28/05ER
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Dokument erstellt am 20.02.2005 um 17:12:56 Uhr
Erscheinungsdatum 21.02.2005
Hartz IV weckt Widerspruch
Arbeitslosengruppen treten Erfolgsmeldungen entgegen
Die Arbeitslosengruppen der Gewerkschaften haben nach dem Start der Arbeitsmarktreform Hartz IV der positiven Bilanz der Bundesregierung widersprochen. Sie wiesen auf die Not der Menschen und die hohe Zahl an fehlerhaften Bescheiden hin.
VON MARKUS SIEVERS
Berlin · 18. Februar · Von einem "chaotischen Start auf Kosten der Erwerbslosen sowie der Beschäftigten der Ämter" spricht Martin Künkler von der Koordinierungsstelle gewerkschaftliche Arbeitslosengruppen (KgA). "Die Erfahrungen der örtlichen Erwerbslosengruppen und Beratungsstellen stehen im krassen Gegensatz zu den schöngefärbten Erfolgsmeldungen der Bundesregierung", erklärte Künkler am Freitag in Berlin. Wer den Start des Arbeitslosengeldes II als gelungen empfinde, müsse "in einer von der Lebenswirklichkeit der Erwerbslosen abgeschotteten Parallelgesellschaft leben".
Als zentrale Schwachstelle nannte Künkler die Leistungshöhe, die er als "viel zu niedrig" bewertet. Die KgA habe dutzende Beispielfälle durchgerechnet und dabei "im Regelfall" erhebliche Einkommensverluste von teilweise mehreren hundert Euro im Monat festgestellt. Die bis Ende 2003 gewährte Arbeitslosenhilfe sei durch andere Zahlungen wie Kindergeld, Wohngeld oder weitgehend anrechnungsfreie Verdienste des Lebenspartners ergänzt worden. Dagegen stelle das Arbeitslosengeld II häufig das gesamte Haushaltseinkommen dar.
Im Unterschied zur allgemeinen Wahrnehmung und zu Aussagen auch von Wohlfahrtsverbänden stuft die KgA die Leistungsgewährung der Verwaltung als "äußerst restriktiv" ein. Grob geschätzt werde momentan im Schnitt zehn bis 15 Prozent zu wenig gezahlt, meinte KgA-Leiter Bernhard Jirku. Der Sozialverband Deutschland hatte kürzlich ganz im Gegenteil prognostiziert, dass sich viele Betroffene auf Kürzungen einstellen müssen. Denn die Sachbearbeiter hätten in der Eile nach der Umstellung auf Arbeitslosengeld II erst einmal das Geld ohne genaue Prüfung bewilligt. Auch die KgA geht von einem enorm hohen Anteil falscher Bescheide aus - allerdings zu Lasten der Betroffenen.
Bis zum 20. Januar hat das Bundeswirtschaftsministerium 141 000 Widersprüche gegen Bescheide zum Arbeitslosengeld II registriert. Davon seien bisher 9313 erledigt worden, wobei in 5150 Fällen die Beschwerdeführer Recht bekamen. Damit hat sich mehr als jeder zweite Widerspruch für die Betroffenen gelohnt.
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Dokument erstellt am 18.02.2005 um 16:49:11
Sozialverband sagt heißen Sommer voraus
Erste Bilanz von Hartz IV nach sechs Wochen weist auf Härtefälle hin / Korrekturen gefordert
Die Empörung über die Arbeitsmarktreform Hartz IV wird nach Einschätzung des Sozialverbandes Deutschland (SoVD) schon bald wieder steigen. Die Organisation rief die Regierung zu raschen Korrekturen auf.
VON MARKUS SIEVERS
Berlin · 11. Februar · Zwar ist es bisher nach dem Start von Hartz IV Anfang Januar relativ ruhig geblieben in Deutschland. Doch das könnte sich bald ändern, erklärte SoVD-Präsident Adolf Bauer am Freitag in Berlin. Vielen drohten Leistungskürzungen, wenn die in großer Eile erteilten Bescheide über das neue Arbeitslosengeld II überprüft würden. "Wir stellen uns deshalb auf einen heißen Sommer ein", sagte Bauer.
Viele Bewilligungen seien mit "heißer Nadel gestrickt", da die Arbeitsagenturen und die Kommunen nur ein Ziel im Blick gehabt hätten: die Fristen einzuhalten. Für zahlreiche Menschen bedeute dies, dass ihnen bei einer Überprüfung die Gelder gekürzt werden oder sie ganz aus der Leistung herausfallen könnten. In einzelnen Regionen hätten sich 80 bis 90 Prozent der Bescheide als fehlerhaft herausgestellt.
Hartz IV hat laut Bauer zu erheblichen sozialen Härten geführt. Besonders betroffen seien alle jene, die auf dem Arbeitsmarkt kaum eine Chance hätten: Ältere, Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Behinderte. "Sie werden durch das Arbeitslosengeld II unter das Existenzminimum gedrückt."
Den Kommunen warf Bauer vor, Langzeitarbeitslose ohne nähere Prüfung der individuellen Situation zum Umzug aus ihren Wohnungen zu drängen. "Solche Formschreiben sind rechtswidrig", betonte der SoVD-Präsident. Bei einer Bewertung der Einzelfälle müssten die Behörden das "soziale Augenmaß" wahren. "Umzüge müssen die Ausnahme bleiben", forderte Bauer. Besonders viele Probleme registrierte seine Organisation bei den Kommunen, die die Option genutzt haben, die Empfänger von Arbeitslosengeld II in eigener Regie zu betreuen.
Als "Ärgernis" bezeichnete Bauer den Umgang mit der so genannten 58er-Regelung, mit deren Hilfe Ältere mit dem Arbeitsamt den Bezug von Arbeitslosenhilfe bis zum frühstmöglichen Renteneintritt vereinbart hatten. Trotz dieser Zusage erhielten sie jetzt nur noch das niedrigere Arbeitslosengeld II. Dies sei ein klarer Vertragsbruch, so dass der SoVD Klagen unterstütze. Drei Musterverfahren seien bereits anhängig.
Zudem verlangte Bauer eine Anhebung der Regelsätze für die Transferzahlungen und eine Angleichung zwischen Ost und West. Regelungslücken beklagte Bauer auch bei der Krankenversicherung. Vielen früheren Sozialhilfeempfängern bleibe trotz Härtefallzuschuss der Weg zur freiwilligen Versicherung in der gesetzlichen Krankenkasse versperrt, weil sie keine ausreichenden Versicherungszeiten ausweisen könnten.
Nachrichten: Koalition uneins über Hartz-Korrektur |
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Dokument erstellt am 11.02.2005 um 16:56:43 Uhr
Erscheinungsdatum 12.02.2005
Koalition uneins über Hartz-Korrektur
Grüne drängen Wirtschaftsminister zu besseren Zuverdienstmöglichkeiten
Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) plant trotz der Zustimmung der Union vorerst keine höheren Zuverdienstmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose. Die Grünen beharren dagegen auf raschen Korrekturen.
VON MARKUS SIEVERS
Berlin · 11. Februar · Mit ihrer Kehrtwende im Streit über Verdienstchancen für Langzeitarbeitslose ist CDU-Chefin Angela Merkel auf die Linie von Rot-Grün eingeschwenkt. Die Union hatte im Gerangel über Hartz IV zum Ärger auch von Clement eine großzügigere Regelung verhindert. Obwohl Merkel nun einen Irrtum eingeräumt hat, will Clement die Gelegenheit für eine Nachbesserung von Hartz IV zunächst nicht nutzen.
Seine Sprecherin erklärte am Freitag in Berlin, jetzt sei die Phase der Umsetzung von Hartz IV und nicht die Zeit für Korrekturen. Erst müsse die Praxis weitere Erkenntnisse bringen, bevor man über Änderungen nachdenken könne.
Diese wollen die Grünen nicht akzeptieren, wie Fraktionsvize Thea Dückert der Frankfurter Rundschau sagte. Die Korrekturen an der Hartz-IV-Regelung sollten "so schnell wie möglich" auf den Weg gebracht werden, erklärte Dückert. Da dürfe die Koalition im Interesse der Betroffenen "keine Zeit verlieren". Die Zuverdienstmöglichkeiten sollten daher möglichst rasch erweitert werden. Dies würde den Langzeitarbeitslosen mehr helfen als Ein-Euro-Jobs, meinte Dückert. Wer als Empfänger von Arbeitslosengeld II bis 400 Euro hinzuverdiene, solle die Hälfte behalten. Für diese Variante hatte sich am Donnerstag im Grundsatz erstmals auch Merkel ausgesprochen.
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Grünen-Chef Reinhard Bütikofer mahnte am Freitag ebenfalls zu Tempo. Allerdings richtete er diese Aufforderung nicht an Clement, sondern an Merkel. Unter der Überschrift "Nägel mit Köpfen machen" forderte er die CDU-Chefin auf, ihren Worten rasch Taten folgen zu lassen.
Die Union dürfe die Betroffenen nicht noch länger warten lassen, betonte Bütikofer. Sie müsse sofort klar stellen, dass der Vorstoß Merkels auch die Zustimmung der Unions-Ministerpräsidenten finde.
Für den Sozialverband Deutschland plädierte der Präsident Adolf Bauer ebenfalls für höhere Zuverdienstgrenzen. "Wir begrüßen, dass Frau Merkel das Problem der zu niedrigen Zuverdienstgrenzen erkannt hat und zu einer Korrektur bereit ist", meinte Bauer.
Dossier: Hartz IV
Nachrichten: Sozialverband sagt heißen Sommer voraus |
Die Seite 3: Falsch reagiert |
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Dokument erstellt am 11.02.2005 um 17:12:10 Uhr
Erscheinungsdatum 12.02.2005
KOMMENTAR: HARTZ IV
Falsch reagiert
Von Markus Sievers
Mit ihrer Kehrtwende im Streit über Hartz IV hat CDU-Chefin Angela Merkel Rot-Grün ein doppeldeutiges Angebot gemacht. Schön ist die Zusage, Langzeitarbeitslosen höhere Zuverdienstmöglichkeiten zu gestatten, weil Merkel damit eine alte Forderung der Koalition erfüllt. Gefährlich ist die Neupositionierung, weil die Regierung nichts so fürchtet wie eine Debatte über ihre Arbeitsmarktpolitik.
Wolfgang Clement hat sich entschlossen, den Geist in der Flasche zu lassen. Zu Unrecht. Solange ein Langzeitarbeitsloser, der sich ins Zeug legt, geschröpft wird, kann etwas im System nicht stimmen. Bestraft wird, wer aktiv wird. Aus gutem Grund hat der Wirtschaftsminister immer wieder beklagt, wie stark die Union die Zuverdienstmöglichkeiten beschnitten hat.
Nun wäre eine Korrektur möglich. Doch Clement verzichtet bis auf Weiteres darauf, um die Ruhe im eigenen Lager nicht zu gefährden. Schließlich könnte jede Änderung an Hartz IV weitere Begehrlichkeiten wecken. Clement hat abgewogen. Er hat sich gegen die Betroffenen und für Taktik, für die Interessen der Koalition entschieden. Er hat falsch entschieden.
Dossier: Hartz IV
Nachrichten: Koalition uneins über Hartz-Korrektur |
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Dokument erstellt am 11.02.2005 um 16:40:15 Uhr
Erscheinungsdatum 12.02.2005
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SOZIALGERICHT / Hartz IV und die Ansprüche ehemaliger Getto-Arbeiter sorgen für Klagewellen. Düsseldorfs Sozialrichter erwartet in den kommenden Monaten noch mehr Arbeit - bei einer Belastung auf ohnehin hohem Niveau und stagnierenden Personalzahlen. Waren 2003 noch 11 158 Fälle zu bearbeiten, standen 2004 gleich 13 259 Prozesse an - "der stärkste Anstieg der vergangenen zehn Jahre". Zugleich habe sich, so Peter Elling, Präsident des Sozialgerichts, mit immer noch 95 Mitarbeitern die Personalzahl im Service-Bereich festgefahren (1998: 119) und läge die Zahl der Richter mit 37 kaum über dem Stand von 1994 (35) - "und damals hatten wir gerade 9612 Eingänge". Erfreulich sei, dass "wir es 2004 trotzdem auf 11 929 erledigte Verfahren gebracht haben". Alg II: 1200 zusätzliche Verfahren Kernthema der kommenden Monate: Klagen in Sachen Hartz IV. Bis Mittwoch dieser Woche verzeichneten die Richter an der Ludwig-Erhard-Allee insgesamt 105 Beschwerden in diesem Bereich - eingereicht meist wegen falscher Berechnungen ("Wo Menschen arbeiten, passieren auch Fehler"). Ein Großteil davon werde beschleunigt verhandelt: "Allein im Januar hat es über 30 Entscheidungen gegeben". Grundsätzlich sei mit etwa 1200 zusätzlichen Verfahren sowie einem deutlichen Anstieg zu rechnen, "sobald erstmals Sanktionen verhängt werden, etwa wenn jemand immer wieder Ein-Euro-Jobs ablehnt". Ergänzend zu den zwei ohnehin neuen Kammern könnte dann kurzfristig eine dritte einberufen werden: "Wir rechnen ab April, Mai mit vermehrten Klagen, da die Leistungsträger dann die Widerspruchsverfahren gegen die Januarbescheide abgeschlossen haben." Steigerung um 150 Prozent Bereits jetzt "dramatisch hoch" sei mit 150 Prozent der Anstieg der Verfahren in Sachen Auslandsrenten (2004: 1329 Fälle). Allein im Januar dieses Jahres seien 330 Klagen eingegangen. 2003 waren es aufs Jahr gerechnet gerade 480. "Wenn das so weitergeht, dürften wir 2005 auf bis zu 4000 Klagen kommen." Die Ursache: Düsseldorf ist bundesweit einzige Anlaufstelle für ehemalige Arbeiter aus Israel, die nach dem im Jahr 2002 verabschiedeten Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten für Beschäftigungen in einem Getto Ansprüche geltend machen können. 30 000 Anträge hatte die LVA Rheinprovinz vor drei Jahren zu bearbeiten; derzeit werden 12 500 Menschen Alters- und Hinterbliebenenrenten in Höhe von jährlich 85 Millionen Euro gezahlt. Rund 9000 Verfahren sind noch offen - "und ein Großteil davon wird sicherlich auch uns erreichen", sagt Elling.
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Hartz-IV-Empfänger klagen über Willkür
Umzug, weil die Miete um 1,39 Euro zu hoch ist / DGB Hessen untermauert Kritik an Sozialreform mit Fallbeispielen
Der DGB Hessen zieht eine vernichtende Zwischenbilanz von Hartz IV: Bei der Berechnung von Arbeitslosengeld II werde in Kreisen und Städten sehr unterschiedlich mit Wohnkosten, Mehrbedarf oder Freibeträgen verfahren. Die Job-Vermittlung indes bleibe auf der Strecke. Mit Schilderungen von Betroffenen belegt der DGB die Kritik.
VON ANITA STRECKER
Frankfurt · 15. Februar · Heiner Günter (Name von der Redaktion geändert) wollte nicht glauben, was er Ende Dezember in seinem Arbeitslosengeld II (Alg II)-Bescheid von der zuständigen ARGE im Lahn-Dill-Kreis las - der gemeinsamen Anlaufstelle von Kreis und Arbeitsagentur: Binnen sechs Monaten sollte er mit seiner Familie aus dem eigenen Häuschen in dem Dorf bei Herborn ziehen. Grund: Unangemessen hohe Wohnkosten. "Wie die ermittelt wurden, geht aus dem Bescheid nicht hervor." Für Heiner Günter liegt da auch das grundsätzliche Problem: "Nachvollziehbar ist da gar nichts." Er versteht nicht, was es bringen soll, wenn er das Haus seiner Eltern abstößt. Sein pflegebedürftiger Vater lebt bei ihm und hält zudem den Nießbrauch im Haus. "Wird es verkauft, fällt der Erlös an den Vater zurück, die Familie Günter hätte nichts mehr. Kein Geld und kein Haus", sagt Sabine Hüther, Beraterin bei der IG-Metall Herborn, die Hartz IV-Betroffene betreut.
Die Situation der Günters hat laut Sabine Hüther offenbar Methode bei der ARGE Lahn-Dill-Kreis: "Von all den Betroffenen, die zu uns kommen, haben bis auf ein paar wenige alle die Aufforderung erhalten, sich eine günstigere Wohnung zu suchen." Nach Recherchen des DGB ist das auch andernorts Praxis, sagt Angelika Beier vom DGB Hessen: In Darmstadt etwa soll ein Alg II-Empfänger von Amts wegen umziehen, weil die Miete um 1,39 Euro zu hoch sei. "Dabei wohnt die Person im Haus einer öffentlichen Wohnungsgesellschaft", was Preiswerteres sei kaum zu finden. Auffällig häufig werde der Wohnungswechsel in Kreisen angemahnt, die nach dem Optionsmodell Hartz IV-Betroffene in eigene Zuständigkeit genommen haben - der Hochtaunus- oder der Main-Kinzig-Kreis etwa.
Martin Bongards nennt das "eine Möglichkeit, um auf dem Rücken der Betroffenen Geld zu sparen". Eine weitere belege sein eigener Fall: Im Januar habe er befristet gearbeitet, seine Überstunden wurden dem Marburger aber erst im Februar als Einkommen angerechnet. "So kann es passieren, dass man einen Monat leer ausgeht." Aber auch das sei längst nicht alles, was nach "Marburger Landrecht" á la Hartz IV möglich sei. So würden gesetzliche Freibeträge, etwa für Betriebskosten bei Nebeneinkünften, nicht angerechnet, Zuschläge für den Übergang vom Arbeitsgeld I oder für besondere Lebenslagen ohne nachvollziehbare Erklärung verweigert.
Annegret Bastaus Marburg ist so ein Fall. Der körperbehinderten Frau wurde zusätzliches Geld für Haushaltsgeräte, "die ich in meiner Situation einfach brauche", versagt. Warum? Schulterzucken. "Das Verrückte ist, dass Behinderte, die arbeiten gehen, den Zuschlag bekommen." Auch Annegret Bast hatte im Dezember endlich Arbeit gefunden. Einen Ein-Euro-Job im Telefondienst bei einem gemeinnützigen Verein. "Ich hatte gehofft, dass dies ein Einstieg sein könnte." Nach sechs Wochen war der Traum zerplatzt, Alternativen hat ihr Kreis-Job-Center nicht zu bieten. Für den DGB Hessen das Stichwort seiner Kritik: "Bisher hat Hartz IV nur gefordert, von Förderung, Job-Vermittlung oder Weiterbildung ist nichts zu spüren", rügt der hessische DGB-Vorsitzende Stefan Körzell. Ein Euro-Jobs seien nicht wie propagiert "letztes Mittel", sondern für viele das einzige Angebot.
DGB: Von Förderung keine Spur
In vielen der neuen Job-Center fehlten Computer und jedwedes Info-Material für Jobsuchende, Fallmanager ließen auf sich warten, Mitarbeiter seien überfordert und hätten keinerlei Erfahrungen mit Job-Vermittlung und Arbeitsmarkt. "Vor allem in optierenden Kreisen ist das so", sagt DGB-Frau Beier. Der DGB kritisiert jedoch nicht nur Fehler wegen der rasanten Umsetzung von Hartz IV, sondern generelle Fehler im System. Antonio Sudon aus Rüsselsheim verkörpert einen. Der 58 Jahre alte gebürtige Spanier, der vor fünf Jahren seinen Job bei Opel verloren hat, unterschrieb die so genannte 58-er Regelung beim früheren Arbeitsamt. Er verzichtete auf Job-Angebote, erhielt dafür die Zusage, seine Arbeitslosenhilfe bis zur Rente zu erhalten. Seit Hartz IV ist dieser Handel mit dem Staat passé.
Aus Berlin verlautet zwar schon lange, dass es eine Lösung für die "Geprellten" geben soll. Von der, sagt DGB-Chef Körzell, ist aber noch nichts in Sicht: "Man kann Menschen nicht einfach warten lassen, bis sich Regelungen einschleifen."
Frankfurt & Hessen: Misstrauen |
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Dokument erstellt am 15.02.2005 um 18:52:33 Uhr
Erscheinungsdatum 16.02.2005
KOMMENTAR
Misstrauen
VON ANITA STRECKER
Die Recherche-Ergebnisse des DGB Hessen sind alarmierend. Dass sie von Gewerkschaftsseite, also von erklärten Hartz-IV-Kritikern stammen, macht das Problem nicht kleiner: Arbeitslosigkeit, Lebensunterhalt, Wohnungswahl oder die Qualität der Job-Vermittlung folgen nicht einheitlichen, nachvollziehbaren Regeln, sondern geraten zum Willkürakt, zur regionalen Standortfrage. So erscheint die Spitze von Hessens DGB-Chef Stefan Körzell auch gar nicht so abwegig, dass es womöglich bald ein Ranking von Städten und Kreisen geben könnte, wie sie mit Alg II-Empfängern verfahren - ob sie rigide oder großzügig Leistungen bewilligen.
Sicher, viele der fehlerhaften oder willkürlich scheinenden Alg II-Bescheide sind fehlenden Ausführungsbestimmungen geschuldet, der Unsicherheit oder Arbeitsüberlastung von Mitarbeitern in neuen Job-Centern. Die ganze Wahrheit ist damit aber nicht gesagt. Städte und Kreise haben wie der Bund mit deutlich weniger Alg II-Berechtigen kalkuliert. Alle sind überrollt von den Kosten und dem Arbeitsaufwand für die Jobvermittlung. Nicht von ungefähr fallen die Bescheide auffallend oft zu Lasten der Betroffenen aus, werden Leistungen restriktiv gewährt, wollen Städte und Kreise über den Hebel Unterhaltskosten Geld sparen. Den Betroffenen wird viel abverlangt. Höchste Zeit, dass sie Klarheit erhalten, nach welchen Kriterien dies geschieht. Und: Sie haben ein Recht auf Gegenleistung, auf qualifizierte Hilfe bei der Jobsuche. Andernfalls wächst Misstrauen - die Arbeitsvermittler in den