Zwangseinweisung als Trauma

Allein in NRW werden jährlich mehr als 20000 Menschen gegen ihren Willen in Psychiatrien stationär behandelt. Gesundheitsminister Laumann (CDU) will die Zahl deutlich senken. Denn der Freiheitsverlust hinterlässt tiefe Spuren auf der Seele. Betroffene berichten.

VON JÜRGEN STOCK


Viersen Auf der rechten Gesichtshälfte von Simon W. zieht sich eine tiefe Narbe vom Mundwinkel bis zum Hals. Sein ganzer Körper ist übersät von Spuren der Selbstverstümmelung. „Wenn ich mich schneide“, sagt der 25-Jährige, „lässt die innere Spannung nach.“. Der junge Mann aus Nettetal leidet am Borderline Syndrom, einer schweren psychischen Erkrankung. Zehn Tage hat er in der geschlossenen Abteilung des Landeskrankenhauses Viersen hinter sich. Ein Richter hatte seine Zwangseinweisung verfügt. „Man hat mir erzählt, dass ich auf meine Mutter losgegangen bin“, berichtet W. Er erinnert sich nicht daran.


Der Nettetaler ist einer von mehr als 20000 Menschen, die jährlich in Nordrhein-Westfalen gegen ihren Willen in einem psychiatrischen Krankenhaus stationär behandelt werden. Zu viele, meint Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU): „Die zwangsweise Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus stellt einen erheblichen Eingriff in die Freiheitsrechte eines Menschen dar. Sie muss die absolute Ausnahme bleiben.“ Gestern informierte die Landesregierung den Gesundheitsausschuss über die Lage. Die Politiker wollen nun nach Wegen suchen, die Zahl der Zwangseinweisungen zu senken.


Ein Mensch darf nur dann gegen seinen Willen in die Psychiatrie eingesperrt werden, wenn er sich oder andere gefährdet. Doch in der Praxis, das bestätigt Rainer Pöppe, Ärztlicher Direktor der Landesklinik in Viersen, gibt es Grenzfälle. „Rund 15 Prozent unserer Patienten wurden zwangseingewiesen“, berichtet der Arzt. Bis zu einem Drittel davon könnte das künftig erspart bleiben, wenn sie ambulant besser versorgt würden, urteilt Pöppe.


Der Krefelder Physik- und Biologielehrer Karl-Heinz P. (55) etwa wollte weder sich noch seine Mitmenschen umbringen. Im Gegenteil: Der Vater dreier Kinder hatte sich vorgenommen, im Alleingang den ersten Golfkrieg 1990/91 zu verhindern. Er rief mitten in der Nacht im Auswärtigen Amt an, verlangte Genscher. „Ich konnte nicht mehr schlafen, habe meine Familie von morgens bis abends vollgequasselt”, erinnert er sich. „Manische Psychose”, lautete die Diagnose der Ärzte. Schließlich erwirkten seine Angehörigen die Zwangseinweisung. Heute kann P. nachvollziehen, dass seine Familie zu diesem Mittel gegriffen hat. Und doch: Der Klinikaufenthalt gehört zu seinen schlimmsten Erfahrungen. Als er keine Medikamente mehr nehmen wollte, sei er vom Pflegepersonal gefesselt und zwangsgespritzt worden. Erst nach vier Monaten durfte er die Klinik wieder verlassen. Er gründete eine Selbsthilfegruppe und zog sich so am eigenen Schopf aus dem Sumpf, unterstützt von seiner Familie. „Im Wesentlichen handelte es sich bei mir um eine schwere Lebenskrise, die zu meistern war, und nicht um eine Hirnstoffwechselstörung, die vorrangig medikamentös korrigiert werden musste“, sagt der Lehrer, der schon lange wieder in seinem Beruf arbeitet.


Auch Psychiater in den Kliniken würden lieber Patienten behandeln, die freiwillig dort sind: „Ein Großteil der Energie geht verloren, weil man dem Patienten klarmachen muss, warum er hier einsitzt“, meint Arzt Pöppe in Viersen. Zudem hätten die Kliniken kein finanzielles Interesse daran, ihre geschlossenen Stationen zu füllen: „Die Behandlung dort ist teurer, weil man mehr Personal braucht als im offenen Bereich. Trotzdem bekommen wir von den Krankenkassen keine höheren Tagessätze.”


Bärbel L. erlebte ihr Psychiatrie-Trauma im Jahre 1997. Damals, erzählt die 55-Jährige, habe sie stark unter Wechseljahrsbeschwerden gelitten. Nach einem heftigen Streit mit einer Freundin bekam sie erste Wahnvorstellungen. Ihr Mann überredete sie zu einem Klinikaufenthalt. An eine geschlossene Unterbringung dachte niemand. Aber dann soll sie eine Pflegerin mit einer Schere bedroht haben. „Diesen Vorfall hat es nie gegeben“, sagt die Kölnerin.


In der geschlossenen Abteilung verschlechterte sich ihr Zustand. Der Anblick von schreienden und zuckenden Schwerstkranken, die starken Medikamente, dazu die eigene seelische Verletzlichkeit: „Ich hatte mit dem Leben abgeschlossen“, erinnert sich Bärbel L. „Es war die Hölle.“ Nach drei Monaten wurde sie entlassen. „Mein Glück war, dass mein Mann zu mir hielt“, betont die Kölnerin. Dennoch dauerte es fast zwei Jahre, ehe sie über eine Selbsthilfegruppe und eine ambulante Therapie wieder auf die Beine kam. Heute berät sie ehrenamtlich psychisch Kranke. „Ich bin geheilt“, sagt sie.


So weit ist Simon W. noch nicht. Er will jetzt zu seiner Freundin ziehen und sich dann in einer Spezialklinik behandeln lassen. Er weiß, dass er Hilfe braucht: „Aber der erzwungene Aufenthalt in der Klinik hat mir ganz sicher nicht geholfen.“

 

- /VON JÜRGEN STOCK


Quelle:
Verlag: Rheinisch-Bergische Druckerei- und Verlagsgesellschaft mbH
Publikation: Rheinische Post Düsseldorf
Ausgabe: Nr.22
Datum: Donnerstag, den 26. Januar 2006
Seite: Nr.3