Verordneter Umzug

Wenn die Wohnung zu groß ist - Hartz IV macht Bedürftigen das Leben noch schwerer, manchmal hilft das Gericht

VON ASTRID HÖLSCHER (MAINZ)

Umziehen wegen Hartz IV, ein trister Anlass. Kerstin M. hat's im September hinter sich gebracht, eine preiswerte Karre gemietet, Freunde packten mit an. Immerhin hat sie eine Unterkunft im gleichen Ort gefunden, einer 6500-Einwohner-Gemeinde zwischen Mainz und Bingen. So muss ihre neunjährige Tochter nicht die Schule wechseln.

Mühsam war die Suche nach einer Bleibe, die von Amts wegen als "angemessen", also bezahlbar, gilt, und sie hat gedauert. Zu lang nach Auffassung des Centers für Arbeitsmarkt-Integration, wie die Arbeitsgemeinschaften von Bundesagentur für Arbeit und Kommunen in Rheinland-Pfalz heißen. Gleich nachdem Kerstin M.'s ältere, erwachsene Tochter im Herbst 2004 ausgezogen war, hatte die Behörde den Mietzuschuss gekürzt. Zwei Personen dürfen nach den rigiden Regeln öffentlicher Wohlfahrt nur 60 Quadratmeter beanspruchen, nicht 75. Und so fehlten der allein Erziehenden, die 554,82 Euro Arbeitslosengeld II erhält, jeden Monat 86,70 Euro in der Haushaltskasse. "Die Miete ist ja nicht billiger geworden", sagt sie leise; und die Wohnung nicht geschrumpft. Kerstin M. legte Widerspruch ein, der wurde abgelehnt. Sie klagte vor dem Mainzer Sozialgericht.

Da hockt sie also im Sitzungssaal, unbehaglich, mit gebeugtem Rücken, die Schultern nach vorn gezogen, als wolle sie sich unsichtbar machen. Von der Wohnungssuche soll sie berichten, bittet Richter Steffen Rehbein, ob sie sich auch "intensiv bemüht" habe. Greifbares hat Kerstin M. kaum vorzuweisen. Den Vertrag mit einem Internet-Dienst, "aber da kamen nur Maklerangebote, ziemlich teuer". Die vergebliche Bewerbung um eine kommunale Wohnung. "Ich sollte mir bei Besichtigungen vom Eigentümer bescheinigen lassen, dass ich da war", habe man ihr im Gemeindebüro empfohlen, "aber das macht doch keiner". Ein solcher Vorschlag, "da sind wir uns wohl einig", bindet Rehbein die Gegenseite ein, sei doch "lebensfremd". Dann interessiert den Richter noch, wie die ortsübliche Vergleichsmiete ermittelt worden sei, der Quadratmeterpreis von 5,31 Euro erscheint ihm sehr niedrig. "Am Anfang haben wir einfach die Sätze aus der Sozialhilfe übernommen", gesteht Center-Geschäftsführer Bardo Kraus ein, kaum ein objektiver Messwert. Im Sommer seien dann mit Daten des Finanzamts korrekte Listen für die Kommunen erstellt worden.

Dreißig Minuten später kann Kerstin M. den Saal in aufrechter Haltung verlassen. Ihre Stirn hat sich geglättet, sichtbar eine Sorge weniger. Im gerichtlichen Vergleich ist eine Nachzahlung vereinbart worden. Das Center kommt für die umstrittenen 15 Quadratmeter auf, beteiligt sich an den Umzugskosten, macht fast 900 Euro auf dem Konto.

Einsichtige Parteien, eine zufriedene Klägerin - für Richter Rehbein ein gelungener Auftakt. Dies nämlich ist eine Premiere, zum ersten Mal werden an diesem Tag in Mainz Hartz-IV-Fälle verhandelt. Gewiss haben sich Sachbearbeiter und Richter schon länger mit der Materie beschäftigt, seit zu Jahresbeginn die Neuerungen im Sozialgesetzbuch II in Kraft traten. Im Landkreis Mainz-Bingen, berichtet Bardo Kraus, gingen 590 Beschwerden ein, bei der Widerspruchsstelle der Stadt Mainz sogar 1400. "Die meisten konnten wir gütlich klären", sagt Kraus. Und sie haben gelernt, "wo die Fehler liegen". Den Mainzer Sozialrichtern flatterten Anfang Januar die ersten Anträge auf vorläufigen Rechtsschutz noch vor dem Gesetzestext auf die Tische; von rund 200 Eilverfahren spricht Vizepräsident Frank Höllein. Seitdem wurde das Gesetz nachgebessert und durch Richterkollegen interpretiert, erneuter Fortbildungsbedarf. Das Ganze gleicht einer riesigen Feldforschung mit dem Versuchssubjekt Mensch.

"Bitte nicht persönlich nehmen", mindert Richter Rehbein denn auch den herben Vorwurf gegen das Center Alzey-Worms ab, dass dessen Bescheid "nicht rechtmäßig" war. Auf unbekannten Pfaden hat sich schon mancher verirrt. Es geht um die so genannte Bedarfsgemeinschaft, eine Neuschöpfung von Hartz IV. Die hat auch andernorts für Irritationen gesorgt und in einigen Behörden detektivischen Eifer entfacht. Inzwischen haben mehrere Sozialgerichte in Eilentscheiden festgestellt, dass zwei Zahnbürsten im Bad und eine gemeinsame Schlafstatt noch keine hinreichenden Beweise für eine eheähnliche Lebenspartnerschaft mit tiefer innerer (und finanzieller) Bindung sind.

Marion J. will und kann die tiefe Bindung zu ihrem Partner gar nicht leugnen, immerhin haben die beiden im März geheiratet. Was aber ist mit ihren drei Kindern aus erster Ehe? Dürfen die einfach in die Bedarfsgemeinschaft einbezogen werden? Der leibliche Vater, ebenfalls arbeitslos, kann pro Kind und Monat nur dreißig Euro aufbringen. Der Stiefvater dagegen ist nicht unterhaltspflichtig, auch wenn er die Kleinen "natürlich unterstützt". Leise Empörung klingt an, dass der Richter ihm solch soziale Kälte unterstellen könne. Aber er fühle sich "ungerecht behandelt", wenn das Amt wie selbstverständlich davon ausgehe, dass er einspringe. Steffen Rehbein stimmt ihm zu.

Auch für Patchworkfamilien weiß das Sozialgesetzbuch eine Bestimmung. Wenn jemand in einer loseren "Haushaltsgemeinschaft" mit Verwandten oder Verschwägerten lebt, so wird "vermutet", dass er denen in der Not beisteht. Eine "sittliche Verpflichtung", so Rehbein, die vage formuliert und dennoch durchkalkuliert ist. Die Freibeträge liegen weitaus höher, den "Haushaltsangehörigen" wird anders als (Ehe-)Partnern kein Vegetieren am Existenzminimum zugemutet. Also heißt es neu rechnen in Alzey-Worms, die komplizierten Familien- und Sorgebeziehungen fein sortieren. Dann mag sich ergeben, dass Marion J. vielleicht nicht "bedürftig" ist, ihre Kinder aber Anspruch auf Hilfe haben. "Dann hoffen wir, dass der nächste Bescheid zur Zufriedenheit ausfällt", verabschiedet Rehbein das Paar. "Sonst sehen wir uns eventuell wieder."

Im Mainzer Sitzungssaal eröffnet sich an diesem Tag "ein Querschnitt durch die Probleme, die das Arbeitslosengeld II verursacht", merkt der Richter an. Mal geht es wie bei Adriane H. ums Prinzip. Ihr Partner verdient gut, sie beansprucht gar keine Stütze. Für ungerecht bis verfassungswidrig aber hält sie die Diskrepanz, dass das Sozialrecht sie wie eine Verheiratete behandle, die Krankenversicherung hingegen ihr die Aufnahme als Familienmitglied verweigere. Die Klage wird als "unbegründet" zurückgewiesen, der Ablehnungsbescheid "entspricht der Gesetzeslage". Die meisten freilich treibt pure Not vor Gericht. "Die wissen nicht, wie sie's bezahlen sollen", sagt Volker Henning von der Mainzer Widerspruchsstelle.

 

 

Hartz IV vor Gericht

 

 

Der Ärger über Hartz IV erreicht die Justiz. Etwa 470 Eilanträge und Klagen sind in Mainz eingegangen, beschäftigen vier von elf Kammern. Am Sozialgericht Berlin, dem größten der Republik, wurde die 4000-Marke überschritten. Früher teilten sich Sozialgerichte, mit Arbeitslosenhilfe befasst, die Aufgaben mit Verwaltungsgerichten, die über Sozialhilfe entschieden. Die alleinige Zuständigkeit heute belastet die Sozialgerichte bis an die Grenze. Für Kläger hat sie den Vorteil, dass der Rechtsweg kostenlos ist. Umstritten sind Mietzuschüsse, Vermögensanrechnungen und die Trennung zwischen Wohn- und Bedarfsgemeinschaft. höl

 

 

Zahide A. hat keine Chance. Ihr Mann hat seit April wieder einen Job, der Lohn schwankt, aber meistens liegt das Einkommen knapp über der Bedürftigkeitsgrenze. Nun soll sie Geld zurückerstatten. Für Mai, das sieht sie ja ein, aber für April? Das übersteigt ihr Alltagsverständnis. "Die Miete ist doch am Ersten fällig, und Lohn gab's erst am Ende des Monats." Rehbein erklärt geduldig, zweimal, dreimal. "Das geht jedem Arbeitnehmer so, dass er den ersten Monat überbrücken muss." Henning bietet Hilfe an. Nicht nur in Form von Ratenzahlung. In flaueren Verdienstzeiten solle sie einfach bei ihm reinschauen, dann könne er rasch schauen, ob sich ein Antrag lohnt. Zahide A. wirkt mitnichten getröstet. "Immer neue Papiere ausfüllen?" Einsilbiger wird die Frau, verlorener ihr Blick. Als der Richter fragt, ob sie nicht die hoffnungslose Klage zurückziehen wolle, entfährt ihr nur noch ein lang gezogener, dumpfer Laut. "Hmhmhmhm." Eine traurige Zustimmung.

 


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Dokument erstellt am 27.11.2005 um 17:12:49 Uhr
Erscheinungsdatum 28.11.2005