Urteil gegen Deutschland

Deutschland ist wegen des zwangsweisen Einsatzes eines Brechmittels bei einem Drogenkurier vom europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt worden. Der Einsatz des Brechmittels sei ein Verstoß gegen das Folterverbot, befand am Dienstag der europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. dpa

Az: 54810/00

 

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Ausgabe: Stadtausgabe (Nr. 159)

Datum: Mittwoch, den 12. Juli 2006

Seite: 6

 

Brechmittel-Einsatz verstößt gegen Folterverbot

 

 

  Deutschland wegen Brechmitteleinsatzes verurteilt

 

*Brechmittel dürfen künftig in Deutschland bei der Drogenfahndung nicht

mehr eingesetzt werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte

verurteilte die Bundesrepublik, weil sie das Eintrichtern von

Brechmitteln bislang erlaubt. Diese Methode verstoße gegen das

Folterverbot, so das Gericht*.

 

/Von Martin Durm, ARD-Hörfunkkorrespondent, Straßburg/

 

Das Zeug dreht einem den Magen um und geht nur schwer über die Zunge:

Ipecacuanha heisst das Medikament, das sofortiges Erbrechen verursacht.

In Polizeikreisen gilt es als eine Art Wundermittel im Kampf gegen

Drogenhändler. Wenn die ihre in Plastikbeutel verschweißten Rauschgifte

noch kurz vor der Verhaftung verschlucken, wird ihnen in einigen

Bundesländern Ipepacuanha eingeflösst, um doch noch an die Beweismittel

zu kommen.

 

Der Europäische Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg hat diese

zwangsweise Verabreichung des Medikaments nun verboten. Gleichzeitig

verurteilte er die Bundesrepublik Deutschland, weil sie das polizeiliche

Eintrichtern des Brech-Medikamentes bislang erlaubte. Andrej Busch ist

der Anwalt eines Drogenkuriers, der mit dem Brechmittel traktiert worden

ist. Genau diesen Richterspruch hat er sich in Straßburg erhofft: "Das

ist ein Urteil, das Signalwirkung über die Grenzen von Deutschland

hinaus hat. Man darf allerdings nicht vergessen, dass zwei Menschen in

Bremen und in Hamburg ihr Leben lassen mussten und selbst das

Bundesverfassungsgericht dieser Praxis keinen Riegel vorschieben wollte.

Wir hoffen daher umso mehr, dass jetzt die Bundesregierung und vor allen

Dingen die Bundesländer und Polizeibehörden alles Erforderliche tun, um

dieses Urteil schnellstmöglich umzusetzen."

 

 

    Zwei Tote bei Brechmitteleinsatz

 

Sein Mandant wird nun von Deutschland 10.000 Euro Schadensersatz

erhalten. Für zwei afrikanische Drogenkuriere kommt das Urteil aber zu

spät. Sie starben, als ihnen Ärzte in Bremen und in Hamburg Magensonden

in den Leib schoben, um ihnen unter Zwang das mit Wasser verdünnte

Medikament einzutrichtern. Was da bislang möglich war und auch vom

Bundesverfassungsgericht akzeptiert worden ist, verstößt nach Meinung

des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen Artikel drei der

Menschenrechtskonvention. Dieser Artikel verbietet die erniedrigende

Behandlung von Menschen und die Anwendung der Folter.

 

 

    Deutschland hat gegen Menschenrechte verstoßen

 

Im Umkehrschluss bedeutet das Urteil von Straßburg, dass Deutschland im

Kampf gegen Rauschgiftkriminalität gegen Menschenrechte verstoßen hat.

Genau diese Auffassung wird auch seit Jahren von der Ärztekammer

vertreten und vom Generalsekretär des Weltärztebundes Dr. Ottmar

Kläuber. Magensonden zwangsweise einführen, Brechmittel einflössen, um

an Beweismittel ranzukommen - das alles verletze die Menschenwürde und

erinnere ihn an Foltermethoden.

 

In den vergangenen Jahren wurde das Brechmittel vor allem in Bremen und

Hamburg aber auch in Berlin Nordrhein-Westfalen und Hessen eingesetzt.

Die Drogenfahnder in Bayern oder in Baden-Württemberg haben darauf

verzichtet und auf konservative Methoden gesetzt. Denn die gibt es auch,

sagt Dr. Kläuber. Dafür braucht es keine Gewalt sondern nur ein wenig

Geduld: "Man lässt den mutmaßlichen Drogendealer einfach so lange

sitzen, bis er seinen Darm auf natürliche Weise entleert hat. Dann kann

man in einem so genannten Drogenklo die Drogenpakete herausfischen. Das

Ganze lässt sich also auf natürliche Weise regeln."

 

Länder prüfen Brechmittel-Urteil

NRW beendet umstrittene Praxis nach Spruch in Straßburg / Instrument wurde kaum noch zwangsweise eingesetzt

Die Bundesländer haben in jüngster

Zeit bei mutmaßlichen Drogen-Kurieren Brechmittel zwangsweise kaum noch eingesetzt. Das ergab eine Umfrage der Frankfurter Rundschau nach dem Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg gegen Deutschland.

Berlin/Straßburg · Am Mittwoch setzte das Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen nach Angaben seines Sprechers Wolfgang Beus die bisherigen Regelungen aus: Es habe angeordnet, zunächst keine Brech- und Abführmittel mehr „zur Exkorporation verpackter Drogen“ einzusetzen, sagte Beus. Er betonte, das Land habe bisher schon sehr restriktive Regeln für den zwangsweisen Einsatz von Brechmittel gehabt. Stets habe ein Arzt den Gesundheitszustand eines Betroffenen beurteilen müssen; eine Notfallausrüstung habe vorhanden sein müssen. Beus sagte der FR, ihm sei aus der jüngsten Vergangenheit kein Fall bekannt, bei dem Brechmittel zwangsweise verabreicht worden wären; er könne ihn aber nicht ausschließen. Das Urteil werde geprüft, dann ziehe man Konsequenzen.

Die Große Kammer des Menschenrechtsgerichtshofs hatte auf Grund einer Klage eines in Deutschland lebenden Mannes aus Sierra Leone Deutschland wegen unmenschlicher Behandlung verurteilt. Das Urteil fiel mit zehn gegen sieben Stimmen. Der Mann erhält 10 000 Euro Schadenersatz. Ihm waren 1993 auf Anordnung eines Staatsanwalts in einem Wuppertaler Krankenhaus Brechmittel über einen Schlauch durch die Nase eingeflößt worden. Dabei hielten ihn vier Polizisten fest – für das Gericht eine „unmenschliche und erniedrigende“ Behandlung. Man hätte auf das natürliche Ausscheiden der Drogenpackung warten können.

Für das Land Hessen erklärte die Sprecherin des Justizministers, Nicole Demme, die Fallzahlen seien „so gering, dass sich das Problem faktisch nicht stellt“. Hessen werde das Urteil prüfen und es dann umsetzen.

Außerdem kann Hamburgs Polizei noch zwangsweise Brechmittel einsetzen. Justizsprecher Henning Clasen versicherte, in diesem Jahr habe es in der Hansestadt noch keinen Fall gegeben, 2005 seien es sieben gewesen. Hamburg nahm unter Innensenator Ronald Schill beim zwangsweisen Einsatz von Brechmitteln einen Spitzenplatz ein. Baden-Württemberg, Berlin und Bremen setzen solche Mittel nur ein, wenn die Betroffenen zustimmen. Wer sich weigere, müsse auf die Drogentoilette. Dann sei auf jeden Fall ein Arzt anwesend, versicherte Hubertus Benert, Sprecher des Berliner Innensenators.

Volker Beck , menschenrechtspolitischer Sprecher der Grünen, forderte die Bundesregierung auf, die Strafprozessordnung so zu ändern, dass dem Straßburger Urteil Rechnung getragen werde. Die Länder sollten prüfen, ob sie ihre Polizeigesetze ändern müssten.

Ralf Stegner, SPD-Innenminister in Schleswig-Holstein, sieht mit dem Urteil seine Drogenpolitik bestätigt. Es gebe stets mildere Mittel. Das Land bekämpfe Drogenkriminalität dennoch erfolgreich. K.-H. Baum

 

RBAUM



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Datum: Donnerstag, den 13. Juli 2006
Seite: 4