Streit um das
Sozialticket
Mehr Teilhabe durch mehr Mobilität - das will die Landesregierung
eigentlich mit dem Sozialticket erreichen. Bedürftige Menschen sollen bei der Nutzung
öffentlicher Verkehrsmittel unterstützt werden. Dafür gibt das Land in diesem Jahr 15 Millionen Euro aus, im
nächsten sogar 30 Millionen Euro. Viele Städte befürchten dennoch Verluste. Sie führen das Sozialticket nur zu höheren
Preisen oder gar nicht ein.
Das
Gezerre um das Sozialticket geht weiter
So sieht das neue Sozialticket des VRR in Solingen aus. Gert Wandel will es
ausprobieren. Der 57jährige Frührentner lebt von Sozialhilfe und konnte sich
bisher keine Monatskarte leisten. „Wenn ich spontan jetzt mal schnell wohin
muss, zum Amt oder wie auch immer, dann brauche ich nicht alles zu Fuß zu
machen. Oder jetzt im Winter Fahrrad fahren.“
29.90 Euro im Monat kostet es für Hartz
IV-Empfänger und andere Bedürftige. Dafür können sie ab 1. November rund um die
Uhr fahren, aber nur innerhalb Solingens.
Die Stadt hofft nun, dass möglichst viele mitmachen. Denn nur, wenn neue
Kunden in großer Zahl dazukommen, wird das Sozialticket kein Verlustgeschäft.
„Wir hoffen, dass es von vielen Menschen genutzt wird, die heute nur
gelegentlich mit dem Bus fahren“, erklärt Robert Krumbein,
Sozialdezernent von Solingen. „Dass ein Zuwachs von Mobilität ihnen mehr
Chancen gibt, am öffentlichen Leben, am Vereinsleben teilzunehmen.“
Sozialticket:
Zuwachs an Mobilität für Bedürftige
Geld verdienen lässt sich mit dem Nahverkehr nicht. Der Ticket-Verkauf deckt
nicht mal die Hälfte der Kosten. Den Rest gleicht die öffentliche Hand aus.
Viele Städte fürchten jetzt mit dem Sozialticket hohe finanzielle Verluste.
Dortmund, Hagen, Krefeld, Remscheid, Velbert, Wuppertal und Teile des
Kreises Mettmann führen deshalb kein VRR-Sozialticket
ein.
In Dortmund etwa gibt es bereits seit 5 Jahren ein eigenes Sozialticket.
Michelle Rehberg hat es. Doch zu schlechten Konditionen. Es gilt erst ab 9:00
Uhr und kostet 31,56 Euro. Für die alleinerziehende
Mutter und Hartz IV-Empfängerin nur bedingt nützlich:
„Das schränkt mich trotzdem ein. Meine Tochter muss um 8:00 Uhr morgens zur
Schule und mit dem Ticket kann ich sie morgens nicht zur Schule bringen.“
Wegen der zeitlichen Beschränkung kaufen sich viele kein Sozialticket mehr.
2006 hatte Dortmund das Rund-um-die
Uhr-Abo für 15 Euro eingeführt. Damals gab es 24 000 Nutzer, seit der Preis
verdoppelt und die Fahrzeit eingeschränkt wurde, sind es nur noch 7500.
Sozialticket
in Dortmund: Erst ab 9 Uhr gültig
Auch Aufstockerin Heike Baller
kann damit nichts anfangen. Die Altenpflegerin arbeitet im Schichtdienst und
zwar vor 9:00 Uhr. Deshalb muss sie ein normales Monats-Abo für 61,10 Euro von
ihrem kleinen Zuverdienst kaufen.
Sie ist sauer, dass Dortmund nicht das Rund-um-die-Uhr
Sozialticket des VRR einführt: „Das kann ich auch nicht verstehen. Ich denke,
das sind alles die gleichen Menschen und die sind alle bedürftig. Dann ist das
egal, wo ich wohne oder so. Das braucht man halt.“
Doch die hoch verschuldete Stadt bleibt hart. Dortmund und andere fürchten
das finanzielle Risiko. „Ich glaube, der Flickenteppich beseitigt sich von
selbst, wenn die Finanzierung landesweit steht. Das ist ja im Augenblick noch
nicht der Fall“, meint Peter Bartow, Sozialamtsleiter
der Stadt Dortmund. „Und von daher gibt es Städte, wie beispielsweise auch
Dortmund, die sagen: Vorsicht, wir gucken erst mal, wir wollen nicht weitere
Minusbeträge abkassieren müssen.“
Vom Land bekommen die Kommunen 30 Millionen Euro pro Jahr fürs Sozialticket.
Das reicht vielen Kommunen nicht. Dabei hatte Rot-Grün im Koalitionsvertrag
versprochen: „ Kurzfristig werden wir deshalb die Initiative ergreifen und die
flächendeckende Einführung von Sozialtickets in den jeweiligen Zweckverbänden
des Landes unterstützen.“
Jochen Ott, SPD verkehrspolitischer Sprecher der SPD bedauert die momentane
Situation: „Wir sind leider nicht so weit, wie wir sein könnten. Eigentlich ist
es Aufgabe des Bundes, in den Hartz IV-Sätzen eine
angemessene Beteiligung sicher zu stellen, also sprich Mobilität möglich zu
machen. Und deshalb sind wir der Meinungen, dass diese sozialpolitische Leistung
vom Bund finanziert werden muss.“
Kommunen
müssen Mehrkosten tragen
Der Bund ist also Schuld – denn, wenn im Hartz
IV-Satz mehr als 20 Euro für die
Fahrkarte drin wären, dann könnten sich auch mehr das Sozialticket für rund 30 Euro leisten.
Kritik kommt von den Linken. Deren sozialpolitische Sprecherin Carolin Butterwegge erläutert: „Dieses Sozialticket soll nicht mehr
als 15 Euro kosten und es muss flächendeckend, sprich verbundweit gelten, das
heißt, dass man auch von A nach B über
Stadtgrenzen hinaus fahren kann. Das sind wichtige Punkte für uns. Und es muss natürlich ausfinanziert sein. Also ein
Sozialticket muss so attraktiv gestaltet werden kann, dass es auch von vielen
in Anspruch genommen werden kann, das es sich auch lohnt.“
Genau das ist eben in Dortmund nicht der Fall. Michelle Rehberg kann auch
weiterhin mit ihrem Sozialticket ihre Tochter nicht zur Schule bringen. Sie
hätte sich was anderes gewünscht: „Dass jeder das gleiche Ticket hat, auch vor
9:00 Uhr fahren kann und das auch in ganz NRW. Also wenn, dann das gleiche für alle. So wie es den Regelsatz gibt,
der für alle ist, warum dann kann
nicht auch das Ticket für alle gleich sein.“
Doch von einem landesweiten Sozialticket ist die Politik noch weit entfernt.
Statt einer flächendeckenden Lösung gibt es vorerst nur einen Flickenteppich.
Stand: 30.10.201
http://www.wdr.de/tv/westpol/sendungsbeitraege/2011/1030/sozialticket.jsp