Portugal hat Konsum von Drogen entkriminalisiert – der beachtliche Erfolg spricht für den Schritt
LISSABON. Seine Wangen sind hohl, der Blick unruhig, die Hose zerfetzt. Der
junge Mann stellt seinen Rucksack vor sich hin, bückt sich umständlich und
nestelt die Schnüre auf. Dann kramt er bedächtig Spritzen hervor, zählt:
"Eins, zwei, drei... vierundzwanzig, fünfundzwanzig." 25 gebrauchte
Spritzen wirft er in den Plastikeimer, den ihm Diana hinhält. 25 neue, steril
verpackte Spritzen händigt ihm Telma aus. "Wie
geht's, Jorge? Alles in Ordnung?", fragt sie. "Ja, ja", nuschelt
der Angesprochene und lächelt verlegen, "wie's halt so geht, man hat's
nicht leicht." Er steht da mit offenem Mund und verzieht sein Gesicht zur
Grimasse. Sein Gebiss bedürfte einer Generalüberholung.
Jeden Tag fahren Telma und Diana mit ihrem weißen
Kleinbus auf den großen Parkplatz von Cruz Vermelha,
einem seelenlosen Neubauviertel im Norden Lissabons. Kaum haben sie die
rückseitige Tür des Fahrzeugs geöffnet, wanken schon die ersten Gestalten
heran, einzeln, vor allem Männer, einige kaum 20 Jahre alt, andere über 50. Und
alle kommen sie mit einem kleinen Rucksack. Sie tauschen ihre blutverschmierten
Spritzen und verrußten Alu-Folien gegen sauberes Material aus. Eine Frau bittet
um Kondome. Diana gibt ihr zehn Stück und - nach inständigem Bitten -
schließlich noch mal zehn.
Telma und Diana, 27 und 25 Jahre alt, tragen
knallgelbe Jacken mit der Aufschrift "Equipa da Rua" - Straßenteam, Streetworker. Sie kennen ihre
Kunden, wissen, wer zu Hause bei Vater und Mutter schläft, wer von seiner Frau
verlassen wurde, wer wieder rückfällig geworden ist, wer Ärger mit der Polizei
hatte. Sie halten mit jedem ein Schwätzchen, scherzen und ermahnen, keine
Spritzen wegzuwerfen. Spielende Kinder könnten sich verletzen und mit dem HI-Virus
infizieren oder mit Hepatitis C. Einigen Männern sieht man ihre Sucht kaum an.
Die meisten aber sind von der Drogenabhängigkeit schwer gezeichnet, sehen elend
und kaputt aus, tragen zerschlissene Klamotten, frieren und zittern.
Gekifft, gekokst und gespritzt wird auch in der Pariser Banlieue
und auf dem Berliner Straßenstrich. Weltweit sind Kohorten von Polizisten im
Einsatz, um Handel und Konsum einzudämmen, Staatsanwälte und Richter ersticken
in Akten. 1972 hat US-Präsident Richard Nixon den "war on drugs" ausgerufen: "Krieg den Drogen".
Portugal aber hat, weithin unbemerkt, schon vor zwölf Jahren einen anderen Weg
eingeschlagen.
So wie Falschparken
Vor zwölf Jahren trat in Portugal ein Gesetz in Kraft, das den Konsum von
Drogen und den Besitz von bis zu zehn Tagesdosen für den Eigengebrauch
entkriminalisiert. Zwischen harten Drogen wie Heroin oder Kokain und weichen
wie Marihuana oder Haschisch wird nicht unterschieden. Wer mit einem Gramm
Heroin oder zwei Gramm Kokain oder fünf Gramm Haschisch oder 25 Gramm Marihuana
erwischt wird, geht straffrei aus. "Damals wurde weithin befürchtet, dass
Portugal schon bald zur Destination eines neuen Drogentourismus werden
würde", erinnert sich Wolfgang Götz, "aber dies war dann eindeutig
nicht der Fall." Götz ist Direktor der Europäischen Behörde für Drogen und
Drogensucht (EBDD), einer Agentur der Europäischen Union mit Sitz in Lissabon.
Sein großes, lichtdurchflutetes Büro im fünften Stock
liegt direkt am Tejo, der hier an seiner Mündung zwei Kilometer breit ist.
Die EBDD gibt jährlich einen Bericht über den Stand der Drogenproblematik in
Europa heraus. Die Befunde sind wenig erbaulich: Etwa ein Prozent der
erwachsenen Europäer konsumiert täglich Cannabis in Form von Haschisch
("Shit") oder Marihuana ("Gras"); vier Prozent aller
Todesfälle unter Europäern im Alter zwischen 15 und 39 Jahren sind
drogeninduziert. Etwa eine Million europäische Drogenabhängige standen 2010 in
Kontakt mit Behandlungseinrichtungen, 50 000 von ihnen - etwa zur Hälfte
Heroinabhängige, zu 16 Prozent Cannabis-Konsumenten - begaben sich in eine
stationäre Behandlung.
In Portugal ist der Verkauf von Drogen generell verboten. Es gibt, anders
als in Holland, keine Coffeeshops, in denen der Kunde
die Wahl zwischen Joints aus afghanischem, libanesischem oder marokkanischem
Cannabis hat. Auch der Konsum von Drogen ist weiterhin illegal, nur ist er seit
zwölf Jahren entkriminalisiert. Er ist kein Delikt mehr, sondern, ungefähr wie
Falschparken, eine Ordnungswidrigkeit, die allerdings in der Regel nicht
bestraft wird.
"Das wirklich Revolutionäre am portugiesischen Modell ist nicht die
Entkriminalisierung", sagt Brendan Hughes, Analyst bei der EBDD,
"auch andere Länder verzichten auf strafrechtliche Konsequenzen des
Drogenmissbrauchs." Tatsächlich kann - es liegt im Ermessen der
Strafverfolgungsbehörden - auch in Deutschland seit dem
"Cannabis-Beschluss" des Bundesverfassungsgerichts von 1994 bei
Besitz von geringen Mengen des Stoffs von einer Strafverfolgung abgesehen
werden. Welche Mengen für gering erachtet werden, ist von Land zu Land
verschieden, in Berlin dürfen es 15 Gramm Marihuana sein, in Bayern nur sechs.
Das Einzigartige am portugiesischen Modell aber, sagt Hughes, sei sein
prinzipieller Ansatz: Der Konsument von Drogen wird generell nicht als
Krimineller, sondern als Kranker begriffen. Zuständig ist deshalb nicht die
Polizei, nicht das Innenministerium und nicht das Justizministerium, sondern
allein das Gesundheitsministerium. "Portugal hat mit der Mentalität der
Bestrafung von Drogensüchtigen radikal gebrochen", sagt Brendan Hughes,
"und es praktiziert eine überzeugende Drogenpolitik, die Prävention,
Therapie und Resozialisierung integriert."
Und die Erfolge sind beachtlich. Unter der Diktatur gab es in Portugal kaum
Drogen, allenfalls Marihuana in den afrikanischen Kolonien. Aber mit den
rapiden gesellschaftlichen Veränderungen, die auf die Nelkenrevolution von 1974
folgten, hatte das Land schon bald ein massives Rauschgiftproblem. Mitte der
Neunzigerjahre spritzten sich schätzungsweise 100 000 Portugiesen Heroin. Um
die Jahrtausendwende hatte Portugal nach England und Wales mit 0,7 Prozent die
zweithöchste Quote Europas an Bürgern, die einmal in ihrem Leben Heroin
konsumiert haben. Zwölf Jahre nach der Entkriminalisierung des Drogenbesitzes hat
sich die Zahl der Heroinsüchtigen vermutlich halbiert.
Wer bei einer Polizeikontrolle mit Drogen für den Eigengebrauch erwischt
wird, muss innerhalb von 72 Stunden bei einer Kommission zur Bekämpfung der
Drogenabhängigkeit vorsprechen. Es gibt 20 solche Kommissionen in Portugal, in
jedem der 18 Distrikte des Landes eine und weit draußen im Ozean je eine auf
Madeira und den Azoren. Jede der Kommissionen, die direkt dem
Gesundheitsministerium unterstellt sind, besteht aus drei Personen - in der
Regel einem Gesundheitsexperten, einem Psychologen und einem Juristen.
Nuno Capaz gehört der
Kommission für die Region Lissabon an, bei der etwa ein Drittel der landesweit
ungefähr 6 000 Fälle abgewickelt werden, mindestens fünf pro Tag, manchmal zehn
oder mehr. "Etwa drei Viertel werden wegen Cannabis-Konsum zu uns
geschickt", sagt der 36-jährige Soziologe, "einige wenige wegen Ecstasy, der Rest wegen harter Drogen. Wir sagen ihnen
nicht, dass sie nicht mehr rauchen dürfen, nicht mehr spritzen sollen. Wir
weisen sie bloß auf die gesundheitlichen Risiken hin, auf die möglichen
juristischen Folgen, wenn der Konsum mit Beschaffungskriminalität einhergeht.
Viele wollen ja gar nicht aufhören. Sie sind frei, zu entscheiden."
Und wenn sie bei der Kommission nicht antraben? "Etwa ein Viertel
müssen wir tatsächlich ein zweites Mal auffordern", räumt Capaz ein, "und notfalls können wir auch Sanktionen
verhängen. Aber in 90 Prozent der Fälle schließen wir das Dossier ohne Folgen
für den Drogenkonsumenten." Gegen mögliche Sanktionen - Pflicht zum
regelmäßigen Erscheinen vor der Kommission, gemeinnützige Dienstleistungen wie
Reinigung öffentlicher Gebäude oder Versorgung alter Leute mit Fertiggerichten,
kleine Geldbußen, Führerscheinentzug oder gar Kürzung der Sozialhilfe - können
die Betroffenen bei einem Gericht Beschwerde einlegen. Wer den Sanktionen nicht
nachkommt, bekommt es mit der Justiz zu tun.
"Unser Ansatz ist es, Hilfe anzubieten", sagt Capaz,
der schon seit zwölf Jahren in der Kommission arbeitet, "nicht zu strafen.
Bei uns steht der Drogenkonsument nicht einem Mann in Uniform oder in einer
Robe gegenüber, einem Mann, der die Staatsgewalt verkörpert, sondern eben einem
wie mir, der im einfachen Pullover daherkommt. Und man setzt sich zusammen an
einen Tisch."
Das ist wörtlich gemeint. António, ein 19-jähriger Abiturient, wird
hereingeführt. Der junge Mann sieht gut aus, ist adrett gekleidet, reicht den
Anwesenden freundlich die Hand, benimmt sich wie bei einem Vorstellungsgespräch
- ganz Typ Wunschschwiegersohn. Capaz bittet ihn, am
Tisch Platz zu nehmen, setzt sich selbst hin und überfliegt das Dossier, das
ihm die Polizei hat zukommen lassen.
António wurde in einem öffentlichen Park mit 5,8 Gramm Haschisch
aufgegriffen - 0,8 Gramm mehr als die tolerierte Dosis für zehn Tage. Deshalb
kam er direkt vor Gericht. Aber ein verständnisvoller Richter verzichtete auf
eine Anklage. Er schickte ihn zur Kommission. Capaz
sagt, was er - in Variationen - zehnmal am Tag sagt. Er hat Routine. António
hört sich alles schweigend an, nickt ab und zu zustimmend oder vielleicht auch
nur Zustimmung heuchelnd, zeichnet ein Blatt ab, womit er bestätigt, dass er
informiert, belehrt, ermahnt worden ist. Capaz wird
ihm in einer E-Mail bestätigen, dass sein Fall abgeschlossen ist. Wird der
Abiturient schon bald seinen nächsten Joint drehen? Capaz
zuckt mit den Schultern. Die ganze Prozedur hat fünf Minuten gedauert.
Engel mit knallgelben Jacken
Aber António war eben auch der eher harmlose Fall. Haschisch ist zwar nicht
ungefährlich, aber doch eine weiche Droge und mit deutlich weniger
Suchtpotenzial als etwa Alkohol, zudem relativ billig und für die
Beschaffungskriminalität deshalb ein zweitrangiger Faktor. Mit Heroinsüchtigen
hingegen dauern Capaz' Gespräche oft länger. Viele
Fixer können sich das Geld für den Stoff nur auf kriminellem Weg besorgen. Wer
eine Handtasche stiehlt oder eine alten Mann überfällt, kriegt es - wegen
Diebstahl, Raub oder Körperverletzung - auch in Portugal mit der Justiz zu tun,
ob er nun Vegetarier oder Drogenabhängiger ist. Und viele Heroinsüchtige
stecken sich mit Hepatitis oder gar Aids an, weil sie keine sauberen Spritzen
verwenden. Ihnen rät Capaz dann oft, mit Taipas Verbindung aufzunehmen.
Taipas ist der Name eines Zentrums für Betreuung
von Drogenabhängigen, das auf dem Areal eines großen Lissabonner Krankenhauses
Schwerstabhängige versorgt - in der Regel ambulant. Zur Zeit
nehmen 1 500 Suchtpatienten die Dienste von Taipas in
Anspruch. Etwa 15 besonders schwere Fälle können ein oder zwei Wochen lang
stationär behandelt werden. Taipas bietet Psycho- und
Beschäftigungstherapien an und hilft Patienten - im Bemühen um ihre
Wiedereingliederung in die Gesellschaft - bei der Suche nach Arbeit und
Unterkunft.
Vor dem grauen Pavillon von Taipas bildet sich
jeden Morgen um neun eine lange Schlange von Menschen, denen die Sucht ins
Gesicht geschrieben steht. Sie kommen, um für eine oder zwei Wochen Methadon zu
fassen, eine Ersatzdroge für Heroin und Kokain, aber weit weniger
gesundheitsschädlich. 470 Drogenabhängige sind im Substitutionsprogramm.
"Im Schnitt dauert dieses zwei bis drei Jahre", sagt Miguel Vasconcelos, der als Psychiater im Taipas
arbeitet, "15 Prozent sind HIV-positiv und über die Hälfte hat Hepatitis
C." Angesteckt haben sie sich über unsaubere Spritzen oder Geschlechtsverkehr.
Einige der Patienten, die vor dem Pavillon von Taipas
um Methadon stehen, haben vermutlich Diana und Telma,
den beiden jungen Frauen, die mit ihrem Kleinbus täglich ins Lissabonner
Viertel Cruz Vermelha fahren und blutverschmierte
Spritzen und verrußte Alu-Folien einsammeln, ihr Leben zu verdanken. Doch
jetzt, wo sie die Hölle des Entzugs durchmachen, haben sich die Engel mit ihren
knallgelben Jacken längst im Nebel einer fernen Vergangenheit aufgelöst.
"Wir wissen nicht, was wir mit unserer Arbeit tatsächlich erreichen",
hatte Telma gesagt, "es gibt keine
Ergebniskontrolle. Aber wenn wir nur ein einziges Leben gerettet haben, hat
sich die Arbeit gelohnt."
Es klang, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt. FR 23.4.13