Nennen wir sie Larissa, und vertrauen wir darauf, dass sie wirklich schon 22 ist. Larissa kommt aus Rumänien. Sie spricht ein paar Brocken Deutsch, und weil ihr Vater aus der Türkei stammt, auch Türkisch. Als sie vor gut zwei Jahren ins Ruhrgebiet kam, wusste sie, welcher Art ihre Arbeit sein würde. Dass man in Deutschland für Sex "sehr, sehr viel Geld bezahlt", hatten ihr die Schlepper erzählt. Dass alles ganz leicht sei.

Die Schlepper waren keine brutalen Schläger, es waren junge Männer aus der Nachbarschaft, die ihr Hoffnungen machten, sie könne mit ihrem Verdienst in Deutschland die Familie in der Heimat unterstützen. Was Larissa nicht ahnen konnte, waren die Bedingungen, unter denen das Geschäft zustande kam. Dass sie einen Wucherpreis für die Vermittlung und die Reise würde zahlen müssen. Dass dadurch Schulden entstehen würden, die sie in einem Land, dessen Sprache sie nicht spricht, und das ihr völlig fremd war, automatisch in die Abhängigkeit gut organisierter Menschenhändler und Bordellbetreiber führen würden.

Larissa hat es vergleichsweise noch gut getroffen. Sie muss nicht auf einem Straßenstrich wie in der Dortmunder Nordstadt anschaffen, wo einige Frauen sich für zehn Euro anbieten. Larissa arbeitet ganz legal als selbstständige Prostituierte und bietet in einer Reihe sogenannter Pauschalclubs des Ruhrgebiets ihre Dienste an. Sie ist nicht krankenversichert, hat aber immerhin eine Meldeadresse. Und inzwischen ist sie auch in der Lage, der Familie in der Heimat ein wenig unter die Arme zu greifen.

Seit der Legalisierung der Prostitution in Deutschland durch das Prostitutionsgesetz von 2001 begründen "sexuelle Handlungen, die gegen ein vorher vereinbartes Entgelt vorgenommen worden, eine rechtswirksame Forderung". Seitdem ist der Betrieb eines Bordells wie der Besuch desselben völlig legal. Die Arbeit, der junge Frauen wie Larissa nachgehen, unterliegt allein den Gesetzen des Marktes.

Die Bulmäninnen

In den einschlägigen Internetforen lässt sich nachlesen, was das für Frauen wie Larissa bedeutet. Ungeschützter Geschlechtsverkehr wird angesichts der Preisverfalls und des enormen Drucks, unter dem die Frauen arbeiten, wie selbstverständlich eingefordert und auch angeboten. "Alles ohne" und "tabulos" gilt Freiern als Qualitätsmerkmal. Experten schätzen, dass sich allein im Ruhrgebiet rund 650 Frauen aus Rumänien und Bulgarien prostituieren. "Bulmäninnen", wie die Freier sie nennen.

Allein in der Dortmunder Nordstadt sind es nach Schätzungen des Vereins Kober, der sich um die Sexarbeiterinnen in den Kneipen und Wohnungen und an der Straße kümmert, zwischen 80 und 120. Ihre Arbeit sei nach der Abschaffung des offiziellen Straßenstrichs viel gefährlicher geworden, sagt Elke Rehpöhler von Kober. Dass die Arbeitsbedingungen in der Prostitution in den vergangenen Jahren immer härter geworden sind, ist unter Experten nicht umstritten. Nur bei der Frage, ob das eine unmittelbare Folge der liberalen Gesetzgebung ist, gehen die Meinungen auseinander.

Die christlich geprägte Hilfsorganisation Solwodi - eine Abkürzung für Solidarity with Women in Distress - betreibt seit 1997 eine Beratungsstelle für Opfer von Menschenhandel. Im Duisburger Stadtteil Hochfeld kümmern sich Solwodi-Mitarbeiterinnen wie Helga Tauch um Frauen, die aus der Szene aussteigen wollen. Weitere Kontaktstellen gibt es seit 2009 in Oberhausen und seit 2011 in Aachen.

Für Helga Tauch und ihre Mitstreiterinnen ist die Sache eindeutig: "Liberale Gesetze wie in Deutschland führen zu mehr Prostitution und mehr Kriminalität. Die Zahl der Frauen, die völlig freiwillig und als selbstständige Unternehmerinnen dem Gewerbe nachgehen, ist verschwindend gering."

Gestützt auf jahrelange Erfahrungen hat die Organisation die wichtigsten Verdachtsmomente zusammengestellt. Ein Fall von Zwangsprostitution müsse vermutet werden, wenn eine Frau ständig überwacht wird und im Bordell lebt und arbeitet. Wenn ein sogenannter Manager einen bestimmten Übernahmebetrag gezahlt hat, den sie an ihn zurückzahlen muss. Wenn sie nicht im Besitz ihres Passes ist und über keine eigenen Geldmittel verfügt. Wenn sie Spuren von Misshandlungen trägt. Wenn sie keine oder nur geringe Sprach- und Ortskenntnisse hat. Wenn sie sich nicht traut, offen zu sprechen, unruhig, verängstigt, unsicher oder sehr sensibel ist. Wenn sie zu fliehen versucht oder sich in einem körperlich schlechten Zustand befindet. Wenn sie einen vernachlässigten Eindruck macht, Alkohol trinkt oder andere Drogen nimmt.

"Wir haben schon alles erlebt: Frauen, die Passanten um Hilfe bitten, weil sie in einem günstigen Moment entwischen konnten. Frauen, die von Freiern zu uns gebracht wurden", sagt Helga Tauch. Sie schildert den Fall einer 27-Jährigen, "die man uns vor die Tür gesetzt hat, weil sie in einem so schlechten Zustand war, dass man an ihr nichts mehr verdienen konnte. Ihre Habseligkeiten haben wir später aus dem Bordell geholt. Die haben drei Wochen im Keller gelegen. Der Betreiber hat behauptet, er habe sie nicht mehr."

Prostitution als Verdienstmöglichkeit für Frauen, als Weg aus der Armut zu deklarieren, ist aus Sicht von Solwodi völlig absurd. "Die Freier ignorieren die Zwangslage der häufig sehr jungen Frauen. Sexuelle Ausbeutung in Deutschland ist straffrei", sagt Helga Tauch. Wenn die Liberalisierung des Markts schon nicht mehr rückgängig zu machen sei, müssten wenigstens Mindeststandards eingeführt werden: Anhebung des Alters von 18 auf 21 Jahren und eine Lizenz, deren Erteilung von Gesundheitsuntersuchungen, einer angemeldeten Wohnadresse, Sprachkenntnissen, einer Krankenversicherung und nachgewiesenen Kenntnissen über Hygiene und Verhütung abhängig sein müsse. "Nur eine Lizenz kann dazu beitragen, dass Frauen, die aussteigen wollen, eine Chance haben, sich jemandem zu offenbaren."

Dass es Fälle von Zwangsprostitution gibt, will Mechthild Eickel vom Verein Madonna in Bochum, der sich seit mehr als 20 Jahren für Prostituierte einsetzt, nicht bestreiten. Man dürfe sie aber nicht verallgemeinern. Anders als Solwodi versteht sich Madonna eher als Berufsberatung und Treffpunkt für Sexarbeiterinnen. In Deutschland, so Eickels Erfahrung, verkauften sich die Prostituierten aus Südosteuropa vor allem aus Unwissenheit und wegen fehlender Sprachkenntnisse unter Wert.

"In unserem Bezirk ist es häufig so, dass sie erst von Kolleginnen aufgeklärt werden, für welche Praktiken man sich wie bezahlen lässt", berichtet Eickel. In Clubs arbeiteten vor allem Frauen, "die sich nicht um ihre Selbstständigkeit kümmern wollen. Die meisten Frauen, die länger in Deutschland tätig sind, steigen irgendwann entweder aus und gehen in einen anderen Beruf, oder sie wählen doch den Weg in die Selbstständigkeit."

Ähnlich sieht das Iris Sperg, die im Duisburger Gesundheitsamt seit 20 Jahren in der Prostituiertenberatung arbeitet. Dass Frauen aus Südosteuropa im Ruhrgebiet in Bordellen arbeiten, habe mit Zwangsprostitution und Menschenhandel nichts zu tun. "Wir machen immer wieder die Erfahrung, dass sie freiwillig nach Deutschland kommen. Viele stammen sogar aus demselben Ort und kennen andere Frauen, die vor ihnen den gleichen Weg gegangen sind."

Beratung ist zu teuer

In Duisburg bemühe man sich vor allem um Aufklärung. "In unserer Beratung habe ich es immer wieder mit Frauen zu tun, die mit der Zimmermiete natürlich auch die Einkommensteuer bezahlt haben, es aber nicht nachweisen können, weil sie keinerlei Belege haben", berichtet Sperg. Viele seien nicht krankenversichert, häufig nicht einmal angemeldet. "Das macht es sehr schwierig, wenn sie aussteigen wollen. Sie müssen zum Beispiel den Nachweis erbringen, dass sie Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Hartz IV haben. Dazu ist ein Beleg über gezahlte Steuern erforderlich."

Iris Sperg kämpft seit Jahren für eine Beratungsstelle in einem Container auf dem Parkplatz direkt neben dem Bordellbetrieb - mit allen Angeboten einschließlich der Gesundheitsvorsorge. Die Kosten pro Jahr seien auf 160 000 Euro geschätzt worden. Diesen Betrag könne die hochverschuldete Stadt aber nicht aufbringen. Dabei sei eine szenenahe Versorgung wichtig. Die Preise für sexuelle Dienstleistungen im Ruhrgebiet seien so im Keller, "dass viele Frauen Raubbau an ihrem Körper betreiben müssen, um überhaupt etwas zu verdienen". Der Weg zum Gesundheitsamt im Stadtteil Ruhrort bedeute drei Stunden Verdienstausfall. Manche könnten sich das einfach nicht leisten.

(K)EIN GUTER VERDIENST?

Der Menschenhandel in der EU nimmt zu. Einer Studie der EU-Kommission zufolge stieg die Zahl der Opfer zwischen 2008 und 2010 von 6 309 auf 9 528. Die Zahl der verurteilten Menschenhändler sank von 1 534 auf 1 339.

Die meisten Opfer stammten aus Bulgarien und Rumänien. Von jeweils drei
Betroffenen seien zwei zur Prostitution gezwungen worden.

Die Beratungsorganisation Solwodi hat am Beispiel der Bordelle in Duisburg
und Oberhausen eine Musterrechnung erstellt, die die Behauptung widerlegt, Prostituierte könnten in Deutschland leichtes Geld machen.

Einnahmen: Pro Kunde erhält die Prostituierte laut Solwodi 30 Euro. Bei sieben Kunden pro Tag kommen bei 28 Arbeitstagen 5 880 Euro im Monat zusammen.

Ausgaben: Zimmermiete: 115 Euro täglich, insgesamt 3 220 Euro. Gewerbe-

und Sexsteuer: zwölf Euro pro Tag. Drei Tage Miete für die arbeitsfreie Nutzung des Bordellzimmers: je 60 Euro. Ausgaben für Essen, Kleidung, Friseur,

Mobiltelefon, Medikamente, Hygiene-Artikel: 400 Euro. Gesamtausgaben: 4 136 Euro. Noch nicht enthalten in dieser Rechnung sind die Krankenversicherung und die Zahlungen an den sogenannten Manager.

FR 17.3.13