Katastrophe im Verborgenen: Hunderttausende junger Georgier greifen zur
Droge Subutex
Von Timo Vogt (Tiflis)
Kachas Augen
werden zusehends kleiner. Die gelbe Nylonschnur mit der Trillerpfeife, die er
eben noch mit den Zähnen stramm um seinen Oberarm gezogen hatte, lässt er aus
dem Mund in seinen Schoß fallen. Ganz ruhig sitzt er nun da, seine Atmung
verlangsamt sich und wird zu einem leisen Hauchen. Ein leerer Blick auf die
leere Spritze, dann gleitet das Drogenbesteck aus Kachas
Hand auf den Glastisch vor ihm. Sein linker Arm liegt noch ausgestreckt auf
seinem Knie, während er sich langsam in die Sofalehne sinken lässt und die
Augen schließt. „Kacha nimmt immer zu viel von
allem“, sagt einer seiner Freunde über den 17-Jährigen mit dem noch spärlichen
Bartwuchs.
Es ist Freitagabend in einer
Seitenstraße im Zentrum der georgischen Hauptstadt Tiflis. Kacha
ist nicht allein. David setzt sich neben ihn und holt ebenfalls eine Spritze
aus der Tasche, die er für umgerechnet 13 Euro fertig aufgezogen gekauft hat.
Für ein paar Euro eine Spritze mit der Illusion von Freiheit. Es war eine
Kleinigkeit, den Stoff zu beschaffen. Beim Spritzen trifft er nicht richtig und
ein wenig Blut läuft aus der Wunde, bildet einen Fleck auf seiner blassen Haut.
Subutex – ein
Wort, das auf den Straßen von Tiflis jeder kennt, aber nur hinter vorgehaltener
Hand ausspricht. Als synthetisches Opioid wird es in
Westeuropa und den USA von Medizinern zur Behandlung von Heroinabhängigen
eingesetzt, weil seine Wirkung über mehrere Tage anhält, ohne dass gleich
Entzugserscheinungen auftreten. In Deutschland erhalten derzeit rund 80 000
Personen diese Ersatzdroge. Im Kaukasus entwickelt sich die Tablette, die oral
eingenommen werden soll, in gespritzter Form zur Jedermann-Droge,
die sich unkontrolliert wie ein Buschfeuer ausbreitet. Von Schmugglern ins Land
gebracht, wird die Pille zunächst in mehrere Teile geteilt und in Flüssigkeit
gelöst, damit eine Spritze aufgezogen werden kann. Die Jugendlichen, die sich
einmal die Woche oder öfter eine Spritze Subutex
„gönnen“, bitten ihre Eltern unter einem Vorwand um Geld oder nehmen es aus
deren Geldbörsen. Andere lassen sich in kriminelle Machenschaften verwickeln.
Wo in diesem mittellosen Land letztlich das Geld für Drogen, Mode-Accessoires
und nagelneue Mobiltelefone herkommt, bleibt das Geheimnis jedes Einzelnen.
„Die Drogen sind hier kein Problem, sondern eine Katastrophe“, meint Koka Labortkuawa, der selbst acht Jahre drogenabhängig war und
nach einem Entzug heute für die Tifliser Organisation „Achali
Gsa“ (Neuer Weg) als Sozialarbeiter Abhängige
betreut. Achali Gsa hilft
Drogenkonsumenten in Georgien durch kostenlose Aidstests und die Verteilung von
sterilen Spritzen, um wenigstens des sich ausbreitenden HI-Virus Herr zu
werden. Fünf Mitarbeiter betreuen zurzeit 350 Drogenkonsumenten.
Zurück im nächtlichen Tiflis. „Es ist
als ob ich fliege, es ist wunderbar“, nuschelt David nach der Spritze und wankt
weiter zu einem Sessel in dem bereits ein Freund sitzt und mit dem Computer
spielt. Kacha starrt derweil gegen die Zimmerwand.
Seine Spritze Subutex war zu hoch dosiert.
Das „Rehabilitationszentrum für
Drogenabhängigkeit“ wurde im Oktober 2005 im kleinen Tabori-Kloster
gegründet, das auf einem Felsvorsprung hoch über Tiflis thront. Wer hier oben
ankommt, ist meist ganz unten. Die 25-jährige Ketevan
weiß sehr wohl, was die Droge aus einem machen kann. Mitte der 90er Jahre hatte
ihr Onkel sie in der trostlosen Zeit nach dem georgischen Bürgerkrieg an die
Nadel gebracht. Ketevan war gerade 14 Jahre alt. Aber
sie schaffte es, aus dem Sumpf zu kommen, las Shakespeare, begann, Gedichte zu
schreiben. Heute lehrt sie Philosophie an der Universität von Tiflis und glaubt
an Gott. Eine kleine Bibel hält sie den ganzen Nachmittag fest in der Hand.
Merabi, der
erst wenige Wochen clean ist und dessen Vollbart immer länger wird, geht das
ganze Gerede auf die Nerven. Dass hier unter psychologischer Betreuung auch
seine Probleme besprochen werden, weiß er zu gut. Merabi
ist aus dem Gröbsten raus, seit einigen Wochen lebt er ohne die tägliche
Spritze. Einem anderen Teenager, den seine Mutter eben durch die Tür in das
Zentrum gebracht hat, steht das Schlimmste noch bevor. Mit kreidebleichem
Gesicht sitzt er neben seiner verweinten Mutter. Die Psychologin nimmt ihn
später zur Seite, um seine Geschichte zu hören und ihn vorzubereiten auf den
ersten Schritt, sich sein Problem selbst einzugestehen. Wenn er sich dazu
durchringt, hat er die Chance auf einen der 24 Plätze in vier Klöstern in
Georgien, in denen man einen Entzug machen kann. Religiöse Bekenntnisse muss
niemand dafür abgeben. Die orthodoxe Kirche ist bislang die einzige
Institution, die sich um die psychologische Betreuung Drogenabhängiger auf
Entzug in Georgien kümmert.
MKOLS
© Copyright Frankfurter Rundschau
Ausgabe: Stadtausgabe (Nr. 176)
Datum: Dienstag, den 01. August 2006
Seite: 8