Jeder Achte lebt heute im Slum
Von Pierre Simonitsch
Genf. Zuerst die gute Nachricht: Seit 2000 haben weltweit 227 Millionen frühere Slum-Bewohner menschenwürdige Behausungen gefunden. Aber die schlechte folgt sogleich: Im selben Zeitraum entstanden an anderer Stelle neue und größere Armensiedlungen. 300 Millionen Menschen mehr bezogen dort Quartier. So leben heute unter dem Strich 828 Millionen Menschen in den Slums der Entwicklungs- und Schwellenländer. Das geht aus dem jüngsten Bericht des UN-Programms für menschliche Siedlungen (Habitat) hervor, der jetzt veröffentlich worden ist. Demnach lebt jeder achte Mensch auf der Erde in einem Slum.
Weil aber insgesamt der Trend zur Verstädterung anhält, sinkt der Anteil der
Slumbewohner an der Gesamtbevölkerung der Mega-Städte Asiens, Afrikas und
Lateinamerikas konstant. In allen Entwicklungsländern zusammengenommen fiel der
Prozentsatz der Menschen, die sich illegal an den Rändern der Städte
angesiedelt haben, seit 1990 von 46,1 auf 32,7 Prozent. In Ostasien ging der
Anteil der Slumbewohner binnen 20 Jahren von 43,7 auf 28,2 Prozent, in Südasien
von 57,2 auf 35 Prozent zurück. Sogar in Schwarzafrika, der ärmsten Region,
sank der Prozentsatz der Slumbewohner in den Städten von 70 auf 61,7. Das
bedeutet allerdings, dass rund zwei Drittel der Bewohner afrikanischer Städte
südlich der Sahara weiterhin ohne fließendes Wasser, sanitäre Einrichtungen,
Strom und Müllabfuhr hausen.
Im Jahr 2009 überschritt die Erdbevölkerung den Punkt, ab dem mehr Menschen in
den Städten leben als auf dem Lande. Die aktuellen Zahlen betragen 50,6 Prozent
oder 3,49 Milliarden Städter. Von diesen Städtern leben in Schwarzafrika 199,5
Millionen in Slums, gefolgt von 190,7 Millionen Slumbewohnern in Südasien, 189,6
Millionen in Ostasien und 110,7 Millionen in Lateinamerika. Die Experten von
Habitat erwarten, dass die Zahl der Slumbewohner jährlich um sechs Millionen
wächst und in zehn Jahren 889 Millionen erreicht.
Die bevölkerungsreichsten Staaten der Welt, China und Indien, unternehmen laut
Habitat große Anstrengungen, um die Slums zu sanieren und in die offiziellen
Städte einzugliedern. Innerhalb von 20 Jahren schafften 65,3 Millionen Chinesen
und 59,7 Millionen Inder den Sprung aus dem Elend. In Westasien hingegen hat
sich sie Lage verschlimmert. Schuld daran sind die Kriege, in die Länder wie
Afghanistan und Irak verwickelt sind. Allein im Irak ist die Zahl der in Slums
zusammengepferchten Städter binnen zehn Jahren von 2,9 auf 10,7 Millionen
hochgeschnellt.
Hauptursache des Wachstums der Slums bleibt aber die Landflucht. "Rund um
die Welt ist die Armut im Allgemeinen in den Städten weniger schlimm als auf
dem Land", heißt es in dem Bericht. In Vietnam oder in Ruanda zum Beispiel
seien die Bauern fünfmal ärmer als die Städter. Die Städte würden zumindest die
Hoffnung auf Jobs und den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen bieten. Die
UN wagen sogar die Voraussage, dass der anhaltende Zustrom in die Städte die
Armut der Gesamtbevölkerung verringern wird. Politiker und Planer werden
aufgefordert, "Urbanisierung als eine positive Kraft für die
wirtschaftliche Entwicklung sowie sozialen und politischen Fortschritt zu
verstehen". Die Entwicklung der Städte entscheidet sich in den Slums. Denn
deren Bewohner sind laut Bericht "jünger denn je, ärmer denn je". In
Kenia und Nigeria machen die zehn- bis 24-Jährigen 35 Prozent der
Gesamtbevölkerung aus. In Rio de Janeiro leben eine Million Jugendlicher
größtenteils in "Favelas". Der Mangel an
wirtschaftlichen Chancen mache viele zu "untätigen Jungen", heißt es.
Hier wird die Zukunft verspielt.
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Dokument erstellt am 19.03.2010 um 17:54:04 Uhr
Letzte Änderung am 20.03.2010 um 21:54:39 Uhr
Erscheinungsdatum 20.03.2010 | Ausgabe: d