Franzosen
dürfen Stütze aufstocken Frankreich führt Solidareinkommen ein / Neuerung soll
1,5 Millionen Armen zugute kommen
Von Stefan Brändle
In Frankreich lohnt es sich auch für Langzeitarbeitslose
demnächst wieder, sich nach einem Job umzuschauen. Bislang streicht der Staat
die Sozialhilfe komplett, wenn sie einen Job finden. Dank dem „Revenu de solidarité active“ (RSA) können Franzosen künftig Sozialhilfe und
Arbeitseinkommen bis zu einem gewissen Grad – dem 1,2-fachen des
Mindesteinkommens (1321 Euro im Monat) – kumulieren. Diese Gesetzesinitiative
nennen die Franzosen Solidareinkommen“.
Das RSA wurde gestern vom Minister für aktive
Solidarität, Martin Hirsch, in Paris präsentiert. Der bisherige Vorsteher des
Hilfswerks Emmaüs glaubt, dass das Mitte 2009
eingeführte RSA schon in den ersten achtzehn Monaten 100 000 Beziehern des
bisherigen Sozialminimums RMI zu einem Job verhelfen könnte. Mittelfristig soll
es 1,5 Millionen Franzosen erlauben, die statistische Armutsgrenze zu
überschreiten. Insgesamt, so Hirsch, dürften fast vier Millionen Franzosen –
bei einer Einwohnerzahl von 62 Millionen – vom RSA profitieren.
Die Einführung dieses Sozialeinkommens war seit
Monaten umstritten, weil es den Staat 1,4 Milliarden Euro im Jahr kostet.
Staatschef Nicolas Sarkozy musste sich resolut auf
die Seite des politischen Einzelgängers Hirsch stellen, um das Projekt zu
retten.
Die politische Linke, die seit Jahren für die
Einführung eines Sozialeinkommens plädiert, weiß hingegen nicht recht, wie sie
reagieren soll. Sie wirft Hirsch Ideenklau vor und befürchtet – nach
Pilotversuchen in einzelnen Departements – gleichzeitig eine negative
Nebenwirkung: Unternehmer würden wegen der Höhe des RSA wohl zunehmend
Teilzeitstellen schaffen. Auch einzelne Gewerkschaften werfen Hirsch vor, er
habe dies zu wenig bedacht.
Kleinsparer zur Kasse gebeten
Den größten Widerstand hatte Hirsch aber im eigenen
Regierungslager zu überwinden. Die Rechtspartei UMP wie auch der Unternehmerverband
Medef verlangten, das Sozialeinkommen durch
Sozialkürzungen oder Haushalteinsparungen zu finanzieren. Doch Sarkozy willigte ein, die Steuern auf Kapitalgewinne um 1,1
Prozent zu erhöhen. Die Abgaben auf Dividenden, Erträge aus Lebensversicherungen
oder Mieten betragen jetzt 12,1 Prozent. Nach Berechnungen des
Wirtschaftsministeriums sollen so 1,5 Milliarden Euro in die Staatskassen
gelangen – genug, um das RSA über Jahre zu finanzieren.
Die Erhöhung der Abgaben kollidiert eigentlich mit
dem Wahlversprechen Sarkozys, die totale
Steuerbelastung reicher Franzosen auf 60 Prozent ihrer Einkünfte zu begrenzen.
Doch Gutverdienende, die diese Marke bereits erreicht haben, werden von den
höheren Sätzen verschont.
Viele Politiker des linken und rechten Spektrums
kritisieren deshalb, dass einmal mehr Kleinsparer und Kleinaktionäre ein neues
Sozialpaket finanzieren müssten. Falls Sarkozy
hoffte, mit dem RSA die ärmsten Wählerschichten zurückerobert zu haben, dürfte
er im Gegenzug viele Sympathisanten aus der Mittelklasse verärgert haben.
Kommentar Seite 17
MSCHWAB
© Copyright Frankfurter Rundschau
Ausgabe: Stadtausgabe (Nr. 207)
Datum: Donnerstag, den 04. September 2008
Seite: 18
KOMMENTAR
Solidarité ?
Von Stefan Brändle
Das Problem ist alt und bekannt: Wenn die
Sozialhilfeempfänger jeden Euro, den sie hinzuverdienen, wieder abgeben müssen,
lohnt es sich für sie nicht, Arbeit zu suchen. Dagegen gibt es zwei Mittel.
Entweder man senkt die staatliche Unterstützung so stark, dass ein Zwang zur
Arbeit entsteht. Oder man lässt zu, dass erst ab einer gewissen Zuverdienstgrenze die Sozialhilfe abschmilzt. Der findige
französische Präsident Nicolas Sarkozy hat sich für
Letzteres entschieden: Er lässt die Kumulierung von Arbeits- und
Sozialeinkommen bis zu einem gewissen Grade zu.
Keine schlechte Idee. Über die politischen
Hintergründe und Winkelzüge ihrer Einführung könnte man hinwegsehen: Das sogenannte Solidareinkommen wurde von den französischen
Sozialisten propagiert – und nun vom Tausendsassa Sarkozy
übernommen. Damit sucht er den Schaden zu begrenzen, den nicht eingehaltene
Wahlversprechen („Ich werde der Präsident der Kaufkraft sein“) bei
einkommensschwachen Wählern angerichtet haben.
Sarkozy denkt aber an alle
Wähler. Den reichsten Franzosen hat er versprochen, die Steuerbelastung zu deckeln. Deshalb müssen diese Topverdiener nun nicht zur
Finanzierung des Solidareinkommens beitragen. Umso mehr dafür mittlere
Einkommen und Kleinsparer. Das sorgt in Frankreich für Ärger. Denn die
sozialpolitische Neuerung geht ins Geld. Schließlich leben in Frankreich
mehrere Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze – davon allein eine
Million Kinder!
In dem Bemühen, es allen Wählergruppen recht zu
machen, verstrickt sich Sarkozys Rechte in
Widersprüche. Man kann nicht so tun, als hätte man ein Herz für die Ärmsten –
und die Reichsten von einer Umverteilung ausnehmen, die sich „aktive
Solidarität“ nennt.
Zur Nachahmung auf der anderen Rheinseite empfiehlt
sich das Solidareinkommen aber auch aus einem anderen, ganz praktischen Grund
nicht. Erlaubte man es den Beziehern des Arbeitslosengelds II, mehr
dazuzuverdienen, subventionierte man Lohndumping. Mit Handkuss würden die
Unternehmen Langzeitarbeitslose einstellen – gegen einen beschämenden
Stundenlohn. Denn anders als in Frankreich schützt in Deutschland kein
Mindestlohn vor Ausbeutung. Seite 18
CYASAR
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Ausgabe: Stadtausgabe (Nr. 207)
Datum: Donnerstag, den 04. September 2008
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