Experten bemängeln Hartz-IV-Pläne
Experten bezweifeln, dass die geplante Hartz-IV-Reform den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entspricht. In einer Anhörung des Bundestages am Montag in Berlin sagte der hessische Sozialrichter Jürgen Borchert: "Nach meiner Überzeugung läuft der Gesetzgeber ins offene Messer." Einhellig kritisierten Experten und Sachverständige, dass der Gesetzgeber die verdeckte Armut bei der Berechnung der Regelsätze nicht berücksichtigt habe. Die verdeckt Armen müssten ebenso wie die Hartz-IV-Empfänger selbst aus der Vergleichsgruppe der Haushalte herausgerechnet werden. Deren monatliche Ausgaben für die Lebenshaltungskosten bilden die statistische Basis für die Berechnung der Regelsätze. epd
Fr 23.11.10
Hartz-Reform verrissen
Sozialrichter und DGB wettern gegen Neubemessung der Leistungsansprüche für Erwerbslose. Insbesondere Schulbedarfspaket und Regelsätze für Kinder »völlig unzureichend«
Von Ralf Wurzbacher JW
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Die von der Bundesregierung geplante Neufestlegung der Hartz-IV-Leistungen verstößt nach Meinung des renommierten
Sozialrechtlers Jürgen Borchert gegen das Grundgesetz. »Die Vorgabe des
Verfassungsgerichts, den Regelbedarf transparent und nachvollziehbar zu
ermitteln, wurde nicht erfüllt«, beklagte der Richter am Hessischen
Landessozialgericht (LSG) gegenüber der Tageszeitung Die Welt vom Montag. Das
Ministerium habe »wieder hinter verschlossenen Türen gerechnet«, werde der
Entwurf in der vorgelegten Form Gesetz, dann laufe die »Regierungsmehrheit in
Karlsruhe ins offene Messer«, prophezeite Borchert. Auch beim Deutschen
Gewerkschaftsbund (DGB) hält man die Pläne für juristisch bedenklich. Er bilde
»keine tragfähige Basis zur Vermeidung von Armut, insbesondere von
Kinderarmut«, kritisierte der Gewerkschaftsdachverband.
Gestern befaßte sich der Bundestagsausschuß
für Arbeit und Soziales in einer vierstündigen öffentlichen Expertenanhörung
mit den von der Regierung angestrebten Änderungen bei der Ermittlung und
Finanzierung der Hartz-IV-Regelsätze. Die Koalition aus
Union und FDP präsentierte Ende September ihre neuen Modalitäten zur Bemessung
der Ansprüche mit dem Ergebnis einer Erhöhung des Erwachsenbedarfs um
kümmerliche fünf Euro. Das höchste deutsche Gericht in Karlsruhe hatte im
Februar die geltende Kalkulation als »willkürlich« verworfen und eine
»transparente und nachvollziehbare« Berechung angemahnt.
Nach dem Urteil von Sozialrichter Borchert, der bei der Parlamentsanhörung am
Montag als Sachverständiger geladen war, ist die Neuberechung so unplausibel
wie zuvor. Vor allem mit Blick auf die Referenzgruppe, die als Maßstab für die
Ermittlung des Bedarfs von ALG-II-Empfängern angelegt
wird, zeigten sich »gravierende Verzerrungen«. Auch Wohlfahrtsverbände und
Erwerbsloseninitiativen unterstellen den Verantwortlichen in diesem
Zusammenhang Tricksereien. Demnach wurden sogenannte versteckte Arme – etwa prekär Beschäftigte – die
ihre bestehenden Leistungsansprüche aus Scham oder Unkenntnis nicht geltend
machen, nicht aus der Referenzgruppe aussortiert. Vor diesem Hintergrund erhebt
Borchert den Vorwurf, die Regelsätze aus fiskalischen Gründen »passend«
gerechnet zu haben.
Der Landessozialrichter opponiert stellvertretend für seine ganze Zunft gegen
die Regierungsvorhaben. Am vergangenen Freitag hatten 330 Juristen auf dem
Deutschen Sozialgerichtstag in Potsdam vor einer erneuten Klagewelle gewarnt,
falls das Gesetz nicht überarbeitet werde und wie von Karlsruhe verlangt zum
Januar 2011 in Kraft tritt. Insbesondere sei der pauschale Betrag des
angekündigten Schulbedarfspakets von 100 Euro plus des monatlichen Betrags von
zehn Euro für Bildung, Sport und Freizeit »völlig unzureichend belegt«, wurde
moniert. Laut Borchert trifft dies auch für die Kinderbedarfe zu, die offenbar
erneut »ins Blaue geschätzt« worden seien.
Der auch für den DGB zu niedrige Kinderregelsatz ist nach dessen Einschätzung
durch eine »politisch motivierte, gesteuerte Auswertung« der Einkommens- und
Verbraucherstichprobe (EVS) zustande gekommen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund
wurde gestern ebenso im Bundestag angehört wie 15 weitere Verbände und sieben
Einzelpersonen. Das angewandte Verfahren sei »nicht in ausreichender
Transparenz« und die Referenzgruppe auf »methodisch unzulässige Weise« gebildet
worden, beanstandeten die DGB-Fachleute in einer vorab veröffentlichten
26seitigen Analyse. DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach hat ferner darauf
hingewiesen, daß die Regelsätze für schulpflichtige
Kinder voraussichtlich frühestens in drei Jahren angehoben werden.
Weiter Kritik an »Hartz IV«-Reform
Berlin. Die von der Bundesregierung geplante Reform der Hartz-IV-Regelsätze stößt bei Sozialverbänden weiter auf Kritik. Der Gesetzentwurf der schwarz-gelben Koalition sei vor dem Hintergrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts in zahlreichen Punkten angreifbar, erklärte der Sozialverband Deutschland (SoVD) am Montag. Er grenze Hilfsbedürftige von einem zentralen Teil des gesellschaftlichen Lebens aus. Der Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt (AWO) äußerte Zweifel, daß die Vorgaben aus Karlsruhe eingehalten wurde. Intransparent seien besonders die Sätze für Kinder, erklärte der AWO-Chef Wolfgang Stadler. Der Bundestag soll am 3. Dezember über das Gesetz abstimmen, die Entscheidung im Bundesrat ist für den 17. Dezember angesetzt. (AFP/jW)
25.11.2010 / Inland / Seite 8Inhalt
»Dieser Gesetzentwurf wird wohl in Karlsruhe landen«
Hartz-IV-»Reform«: Die Neue Richtervereinigung befürchtet Klagewelle vor Sozialgerichten. Gespräch mit Frank Schreiber
Interview: Gitta Düperthal
Frank Schreiber ist Sprecher der Fachgruppe Sozialrecht der Neuen Richtervereinigung, promovierter Jurist und Richter am hessischen Landessozialgericht
Am Freitag wird vor dem Berliner Reichstag gegen das Sparpaket demonstriert, das der Bundestag an diesem Tag behandeln will. Auch die Neue Richtervereinigung hat Kritik an dem Gesetzentwurf zu Hartz IV – sie befürchtet u. a. eine weitere Flut von Klagen bei den Sozialgerichten. Weswegen eigentlich?
In der aktuellen Fassung des Entwurfs ist immer noch nicht
vom Tisch, daß Darlehen auf das Arbeitslosengeld II
(ALG II) angerechnet werden sollen, die der Familien- oder Freundeskreis den
Betroffenen gewährt. Dabei handelt es sich zum Beispiel um eine Überbrückung
für Arbeitslose, damit sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können, falls das
Jobcenter den monatlichen Betrag erst Wochen zu spät zahlt. In der
Vergangenheit wurden solche Darlehen nicht angerechnet.
Sozialgerichte haben geprüft, ob es sich in solchen Fällen tatsächlich um ein
Darlehen handelte oder etwa um ein Geldgeschenk, was schon immer angerechnet
wird. Nur besondere Geschenke, etwa zur Kommunion des Kindes, werden
ausnahmsweise nicht angerechnet, aber alles andere gilt als Einkommen.
Künftig will man Darlehen genauso werten. Das ist ungerecht, weil es sich bei
verspäteter Zahlung schließlich um einen Fehler der Behörde handelt. Außerdem
werden Arbeitslose dann vermutlich nicht mehr diese Hilfe von Freunden oder
Verwandten annehmen, weil sie ihnen nicht wie bisher das Geld zurückzahlen
können, wenn das Amt rückwirkend zahlt. Die Betroffenen werden sich in einem
solchen Fall dann wohl sofort um Eilrechtsschutz beim Sozialgericht bemühen.
In welchen Fällen kommt es denn zu verspäteter Auszahlung?
Vor allem dann, wenn ein ALG-II-Bezieher verzögert sein Einkommen aus selbständiger Tätigkeit aufstocken muß, weil es nicht zum Lebensunterhalt reicht. Das sind etwa Leute, die sich als freie Mitarbeiter mit kleinen Programmiererjobs durchschlagen oder die einen Kleinst-Verlag betreiben – in solchen Fällen muß das Jobcenter komplexe Prüfungen vornehmen. Eigentlich sollte es dann überschlägig vorläufige Leistungen gewähren, aber das entspricht leider meist nicht der Praxis. Bislang halfen sich Betroffene, wenn dies möglich war, im Freundes- und Familienkreis aus – die Gerichte wurden nicht sofort bemüht. Das wird sich jetzt aber ändern.
Wird nicht auch die Verschärfung der Sanktionen für ALG-Bezieher Klagen nach sich ziehen?
Bisher mußte die Behörde
nachweisen, daß sie die Betroffenen ausführlich und
verständlich darüber informiert hat, wann sie mit Kürzungen rechnen müssen. Nur
unter dieser Voraussetzung konnte sie die Leistung kürzen, wenn ein Hartz-IV-Bezieher einer bestimmten Verpflichtung nicht
nachkam: zum Beispiel Bewerbungen schreiben, Vorstellungstermine wahrnehmen
oder Ein-Euro-Jobs antreten.
Künftig muß der Behördenmitarbeiter zwar auch
belehren – falls er es aber vergessen hat, kann er trotzdem kürzen, wenn der
Leistungsempfänger seiner Ansicht nach davon sowieso bereits Kenntnis hatte. Es
bleibt dann an den Gerichten hängen, eine umfangreiche Beweisaufnahme darüber
einzuleiten, was der Betroffene wußte und was nicht.
So gibt man der Verwaltung eine Erleichterung an die Hand, Leistungen zu
kürzen. Dies geht einher mit der Einführung betriebswirtschaftlichen Denkens in
der Sozialverwaltung. Man ermöglicht dem Jobcenter, »schlanker« zu arbeiten –
ich will nicht sagen: »schlampiger« –, treibt aber zugleich die Justizkosten in
die Höhe. Und die muß letztlich der Steuerzahler
begleichen.
Ihr Fazit als Sozialrichter zur neuen Hartz IV-Regelung der CDU/FDP-Koalition?
Die breite öffentliche Kritik von Sozialverbänden, Kirchen und Oppositionsparteien daran, daß auch dieses Mal die neue Höhe des Regelsatzes nicht nachvollziehbar ermittelt wurde, wird Folgen haben. Herbe verfassungsrechtliche Kritik haben mein Kollege Jürgen Borchert und die Juraprofessorin Anne Lenze auch bei der Anhörung im Bundestag am Montag dieser Woche geäußert. Zunächst wird aufgrund dieser Bedenken eine noch stärkere Klageflut als bisher über die Sozialgerichte hereinbrechen. Es wird Personalengpässe geben. Letztlich wird auch dieser Gesetzentwurf wohl wieder auf dem Tisch der Richter in Karlsruhe landen.
Herr Borchert, der Bundestag verabschiedet heute die Hartz-IV-Reform.
Ist das Gesetz jetzt verfassungsfest?
Der Gesetzentwurf wirft mehr Fragen auf, als er Antworten bringt. Und die
Zweifel werden immer größer, je tiefer man in die Materie einsteigt.
Beginnen wir mal mit dem Regelsatz für Erwachsene. Das
Verfassungsgericht hat eine transparente Berechnung angemahnt. Wird das
erfüllt?
In der Summe der fragwürdigen Details wohl nicht. Das fängt an bei der
Referenzgruppe für die Berechnung des Regelsatzes. Früher wurde das untere
Fünftel der Arbeitnehmer betrachtet, jetzt die untersten 15 Prozent. Man hat
also den Beobachtungsrahmen nach unten verschoben. Das hat das Urteil zwar
nicht verboten, aber weil die Bezugsgruppe kleiner ist, muss man umso strikter
darauf achten, dass die weiteren Bemessungsfaktoren korrekt sind und zu
realitätsgerechten Ergebnissen führen. Das sehe ich nicht.
Was meinen Sie?
Bei der Berechnung des Existenzminimums wurde der übelste Zirkelschluss
nicht ausgeschlossen: Die verdeckt Armen, also die Leute, die Sozialleistungen
bekommen könnten, sie aber nicht in Anspruch nehmen, wurden nicht aus der
Referenzgruppe herausgenommen. Dadurch wird das Ergebnis verzerrt – immerhin
soll es sich um bis zu fünf Millionen Menschen handeln.
Was ist die Konsequenz?
Zur Person
Jürgen Borchert ist Vorsitzender Richter des 6. Senats des
Hessischen Landessozialgerichts in Darmstadt. Er hat Jura, Soziologie und
Politologie studiert und zahlreiche Beiträge zur Sozial- und Familienpolitik
publiziert.
Mit seiner Klageschrift trug Borchert dazu bei, dass das
Verfassungsgericht die Hartz-IV-Regelsätze kippte.
Zuvor setzte sich Borchert für die Berücksichtigung von Erziehungszeiten bei
der Rente ein.
So erscheint mir der neue Satz nicht nur intransparent
berechnet, sondern auch nicht realitätsgerecht, viel zu niedrig. Es wurde
offenbar versucht, die Zahlen nach unten zu rechnen.
Die Bundesregierung sagt, der Abstand zu den untersten Lohngruppen
musste gehalten werden.
Aber das Lohnabstandsgebot, das im 12. Buch des Sozialgesetzbuchs stand, hat
sie nun zu Recht abgeschafft! Karlsruhe hat nämlich gesagt, dass beim
Existenzminimum jeder Einzelfall ausreichend abgedeckt werden muss. Damit ist
eine Orientierung am Lohnabstand komplett obsolet geworden. Schon vor dem
Urteil war das Lohnabstandsgebot realitätsfremd. Denn seit den Hartz-Reformen haben wir eine Lohnspirale nach unten.
Selbst für eine nur dreiköpfige Familie kann heute Vollzeitarbeit kein
menschenwürdiges Existenzminimum mehr garantieren.
Die Regierung hat bei der Berechnung das Geld gestrichen, was für den
Kauf von Alkohol und Tabak zur Verfügung stand. Dagegen ist doch nichts zu
sagen?
Das klingt plausibel, ist es aber nicht. Wenn der Gesetzgeber sagt, Alkohol
und Zigaretten gehören nicht dazu, muss er den Verbrauch der sehr großen Gruppe
von Blaukreuzlern und Abstinenzlern untersuchen, die keine legalen Genussgifte
nehmen. Das wäre methodisch korrekt. Die werden nun in Mithaftung für die
genommen, die rauchen und trinken, weil eben alle weniger Geld bekommen.
Und was ist mit den Kindersätzen?
Da gibt es gravierende Ungereimtheiten: So wird angenommen, dass der
Alkohol- und Zigarettenverbrauch der 13- bis 17-Jährigen über dem der Eltern
liegt. Die Mobilitätskosten der Sechs- bis Zwölfjährigen übertreffen angeblich
die der 13- bis 17-Jährigen. Das heißt auch, die Kinderregelsätze sind mit
größter Vorsicht zu genießen.
Kann man Sie wenigstens für das Bildungspaket gewinnen? Immerhin gibt es
Geld für Nachhilfe oder Fußballkurse.
Gemessen am Bedarf ist das mickrig. Besonders fragwürdig ist auch die mit
extrem hohen Verwaltungskosten verbundene Gutscheinlösung. Ihr liegt das
Menschenbild zugrunde, dass Hartz-IV-Eltern nicht
fähig seien, ihre Kinder vernünftig zu erziehen. Das ist
ein kulturpessimistischer Generalverdacht und eine Respektlosigkeit, die nicht
mit dem Grundsatz der Menschenwürde vereinbar sind. Und es widerspricht der
Erfahrung. Vom Statistischen Bundesamt wissen wir, dass die allermeisten Hartz-IV-Eltern sich lieber verschulden, um die
Bildungsansprüche ihrer Kinder zu erfüllen, als Geld zweckwidrig zu
verbrauchen.
Klingt, also würde das Gesetz bald wieder in Karlsruhe landen.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Gesetzentwurf auf Dauer so
bleiben wird, und schließe nicht aus, dass das Quorum für eine
Normenkontrollklage des Bundestags erreicht wird. Dafür ist ein Drittel der
Abgeordneten nötig. Denkbar wäre auch ein Massenaufstand der Hartz-IV-Empfänger, die direkt nach Karlsruhe gehen. Auf
jeden Fall kann man davon ausgehen, dass über kurz oder lang ein Sozialgericht
einen Fall wieder dem Bundesverfassungsgericht vorlegt.
Interview: Daniela Vates
Hartz-IV-Reform: Die neue Aufgabe Kind
Schwarz-Gelb drückt Hartz-Reform durch
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