Eine Denkschrift, die verwundert

Von Friedhelm Hengsbach

Der Rat der Evangelischen Kirche hat eine Denkschrift über Armut im reichen

Deutschland vorgelegt. Armut ist materielle Verelendung, aber vor allem

mangelnde Teilhabe an der Gesellschaft und Ausschluss aus ihr.

Die Denkschrift belegt, dass bei der Festlegung der Regelsätze des

Arbeitslosengelds II Willkür und haushaltspolitische Rücksichten maßgebend

sind. Folglich garantieren die staatlichen Fürsorgeleistungen nicht das von

der Verfassung gebotene soziokulturelle Existenzminimum. Ein geschärfter

Blick ist auf die extreme und verdeckte Armut außerhalb der staatlichen

Fürsorgeleistungen und jenseits der öffentlichen Aufmerksamkeit gerichtet.

Die Gesichter der Armut werden unter Kindern, allein erziehenden Frauen und

ausländischen Haushalten ausgeleuchtet. Den Leistungsberechtigten wird ein

Anspruch auf das soziokulturelle Existenzminimum eingeräumt. Soziale

Reformen werden mit beschäftigungspolitischen Initiativen verklammert. Die

kirchliche „Option für die Armen“ wird befreiungstheologisch im

schöpferischen und heilsamen Handeln Gottes verankert, der das Volk Israel

aus dem Arbeitshaus Ägypten herausführt.

Dass eine der Großkirchen ein zentrales Thema aus dem vor neun Jahren

veröffentlichten Gemeinsamen Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage

aufgreift, ist wunderbar, löst aber auch eine ziemliche Verwunderung aus.

Warum wird das Konzept der Beteiligungsgerechtigkeit und damit das

politische Recht der Bürgerinnen und Bürger, sich an den wirtschaftlichen

und politischen Entscheidungsprozessen aktiv zu beteiligen und selbst darin

zu vertreten, gegen „gerechte Teilhabe“ ausgetauscht? Teilhabe erinnert an

die platonisch-christliche Metaphysik, da das höchste Wesen die

geringerwertig und untergeordnet Seienden an der Fülle des Guten teilhaben

lässt. Oder sie entstammt der Bildwelt des mystischen Leibes, an dessen

Lebensprinzip die einzelnen Organe teilhaben. Aber weder feudale

Hierarchien noch bio-kybernetische Systeme passen auf demokratische

Gesellschaften.

Welche Umschichtung von Rechten und Pflichten verbirgt sich hinter der

zauberhaften Synthese aus Verteilungs- und Befähigungsgerechtigkeit? Indem

der Sozialstaat seinen Rückzug aktiviert, befähigt er die Armen nicht, ihre

eigenen Lebenschancen zu ergreifen, selbst Verantwortung zu übernehmen,

Wege aus der Armut zu suchen und an der Gestaltung der Gesellschaft

mitzuwirken. Individuelle Befähigung ist auf kollektive Gegenmacht

angewiesen. Die erste Frage wirtschaftlicher Gerechtigkeit ist die

Rechtfertigung kapitalistischer Machtverhältnisse. Darüber verliert die

Denkschrift kein Wort.

Wie rechtfertigt die Denkschrift das auffällige Übergewicht der

Bildungspolitik? Sie nennt zwei Ursachen der Verarmung: Arbeitslosigkeit

als entscheidenden Risikofaktor und mangelnde Bildung, die unter allen

Faktoren am deutlichsten durchschlägt.

Schlechtes Alibi

Warum ist die Denkschrift auf den Mikroblick des deutschen Arbeitsmarktes

und die Kostenbelastung der Arbeitsverhältnisse fixiert, selbst im

spielerischen Vergleich mit anderen Ländern? Abgeleitete Arbeitsmärkte

erholen sich, sobald die Finanz- und Gütermärkte öffentliche und private

Realinvestitionen anregen. Bloße Arbeitsmarktinitiativen sind ein

schlechtes Alibi für Wachstums- und Beschäftigungspolitik.

Die christliche Kirche seit ihren Anfängen an der Seite der Armen? Ein

hehrer Wunsch, der im letzten Abschnitt der Denkschrift von den Tatsachen

eingeholt wird. Das bildungsbürgerliche Milieu deutscher Kirchengemeinden

ist den Armen fremd und von ihren Lebenserfahrungen weit entfernt.

 

MSCHWAB

 

 

© Copyright Frankfurter Rundschau

Ausgabe: Stadtausgabe (Nr. 168)

Datum: Samstag, den 22. Juli 2006

Seite: 9