Die Schwachen tragen die Starken

 

Die real stattfindende Umverteilung der Lasten in Deutschland

 

Von Michael Hartmann

 

Die von Peter Sloterdijk in der FAZ publikumswirksam eröffnete Debatte um den Sozialstaat leidet deutlich darunter, dass kaum einer der Beteiligten auf die Fakten sieht. Sloterdijks Kritik richtete sich in erster Linie gegen die von ihm diagnostizierte Enteignung der Leistungsträger durch das Einkommensteuersystem des modernen Steuerstaats. Die Steuerstaaten reklamierten inzwischen "die Hälfte aller Wirtschaftserfolge ihrer produktiven Schichten für den Fiskus", so seine Worte. Man habe sich "an Zustände gewöhnt, in denen eine Handvoll Leistungsträger gelassen mehr als die Hälfte des nationalen Einkommensteuerbudgets bestreitet". So nennt Sloterdijk den "fiskalischen Bürgerkrieg" dann auch die "plausibelste Reaktion". Sätze wie diese erwecken den Eindruck, als belaste der Staat eine kleine Gruppe der Bevölkerung weit über Gebühr, um mit dem ihnen abgepressten Geld die Masse der nicht produktiven Bevölkerung durchzufüttern.

 

Zahlen und Fakten? Ach was

 

Wie schon die Formulierung "eine Handvoll Leistungsträger" zeigt, geht Sloterdijk recht großzügig mit Zahlen und Fakten um. Ein Blick auf die deutsche Wirklichkeit ist daher hilfreich, um etwas mehr Klarheit zu gewinnen.

 

Zunächst ist es richtig, dass die oberen zehn Prozent der Einkommensbezieher ungefähr die Hälfte der Einkommenssteuer aufbringen. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Um die Relationen einschätzen zu können, muss man wissen, dass diese zehn Prozent auch knapp 40 Prozent der Markteinkommen (Löhne, Gehälter, Kapitaleinkünfte, Mieteinnahmen etc.) erzielen. Sie werden steuerlich zwar überproportional belastet, aber bei weitem nicht in dem Maße, wie Sloterdijk es darstellt. Lässt man alle Personen unberücksichtigt, die weniger als 800 Euro pro Monat verdienen und deshalb kaum oder gar keine Steuern zahlen, reduziert sich die Differenz zwischen dem Anteil an den Einkommen und dem Anteil an den Einkommenssteuern sogar auf nur gut fünf Prozentpunkte.

 

Außerdem ist die steuerliche Belastung der höheren Einkommen im letzten Jahrzehnt nicht gestiegen, sondern gesunken. Verschiedene gesetzliche Maßnahmen haben dafür gesorgt. Nach der Abschaffung der Vermögenssteuer 1997 ist auch der Spitzensteuersatz zwischen 2000 und 2005 von 53 auf nur noch 42 Prozent gesenkt worden. Für Kapitalgesellschaften bleiben seit 2000 Gewinne völlig steuerfrei, die bei der Veräußerung von Unternehmen oder Unternehmensanteilen erzielt werden. Schließlich sorgt die 2008 beschlossene 25-prozentige Abgeltungssteuer dafür, dass höhere Einkommen ihre Kapitaleinkünfte nicht mehr mit dem persönlichen Steuersatz von bis zu 42 Prozent versteuern müssen.

 

Das begünstigt vor allem die Reichen und die Superreichen. Die reale steuerliche Belastung der 450 reichsten Deutschen mit einem jährlichen Mindesteinkommen von damals neun Millionen Euro hat sich allein zwischen 1998 und 2002 durch die Steuerreformen der ersten rot-grünen Bundesregierung von 41 auf 34,3 Prozent verringert. Bei den 45 reichsten Deutschen mit einem Mindesteinkommen von 22 Millionen Euro sank sie von 45 auf 32 Prozent, also um über ein Viertel. Nach neuesten Angaben des Statistischen Bundesamts hat sich daran trotz der Einführung der sogenannten Reichensteuer (ein Spitzensteuersatz von 45 Prozent für Einkommen ab 250

 

000 Euro jährlich für Ledige) kaum etwas geändert.

 

Zwischen 1998 und 2006 sind die Einkommensunterschiede bei den Nettoeinkommen, also nach Steuern und Sozialabgaben, erheblich schneller gestiegen als bei den Bruttoeinkommen. Während der Anteil der Haushalte mit mittleren Einkommen, das heißt zwischen 70 und 150 Prozent des Durchschnittseinkommens, brutto von 45,8 auf 41,2 Prozent sank, ging er netto sogar von 62,7 auf 53,9 Prozent zurück. Bei den hohen und den niedrigen Einkommen ober- und unterhalb dieser Schwellenwerte sieht es genauso aus. Die Gruppe der Gutverdiener ist bei den Nettoeinkommen zweimal so stark gewachsen wie bei den Bruttoeinkommen, die der Niedrigverdiener sogar dreimal so schnell. Die Umverteilungswirkung des Steuersystems ist zwar weiter existent, hat aber insgesamt stark an Gewicht verloren.

 

Das spüren vor allem die Bezieher geringer Einkommen. Sie sind die eindeutigen Verlierer der letzten Jahre. Der Anteil der Armen hat in Deutschland massiv zugenommen. Mittlerweile gilt jeder sechste Bundesbürger als arm. Für diese Zunahme sind in erster Linie die unter dem Namen Hartz bekannt gewordenen Sozialgesetze der Schröder-Regierung verantwortlich. Sie haben nicht nur zu einer deutlichen Senkung der Sozialleistungen für Arbeitslose geführt (Verkürzung des Bezugszeitraums für Arbeitslosengeld, Abschaffung der Arbeitslosenhilfe), sondern auch zu einer massiven Ausweitung eines Niedriglohnsektors. In ihm sind heute 21,5 Prozent der Beschäftigten tätig, verglichen mit nur 14,7 Prozent Mitte der 90er. Die Löhne liegen dort vielfach unterhalb der Hartz-IV-Sätze und müssen durch staatliche Transferzahlungen ergänzt werden. Jeder zehnte in Deutschland lebende Mensch erhält inzwischen Leistungen aus den sozialen Mindestsicherungssystemen, und das, obwohl über ein Viertel der Anspruchberechtigten seinen Anspruch nicht geltend macht und daher keine staatliche Unterstützung erfährt.

 

Dazu: die indirekten Steuern

 

Will man die Realität tatsächlich erfassen, muss man in der Analyse noch einen Schritt weiter gehen. Die Einkommenssteuer macht ja nur einen Teil der steuerlichen Belastung aus. Zu den direkten kommen die indirekten Steuern wie die Mehrwertsteuer, die Mineralöl- oder die Tabaksteuer. Ihr Anteil am Steueraufkommen ist kontinuierlich gestiegen, z.B. durch die 2006 beschlossene Anhebung der Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent. Machten die indirekten Steuern 1990 etwa 40 Prozent des Steueraufkommens aus, so liegt ihr Anteil seit 2001 fast durchweg über 50 Prozent. Indirekte Steuern aber betreffen niedrige und mittlere Einkommen, die ganz oder zum allergrößten Teil für die alltägliche Lebensführung ausgegeben werden müssen, weit stärker als höhere Einkommen.

 

Die in den letzten Jahren bereits reduzierte, aber immer noch vorhandene Umverteilungswirkung bei der Einkommensteuer verliert durch diese Verschiebung zwischen direkten und indirekten Steuern weiter an Bedeutung. Dazu kommen noch die Belastungen durch Veränderungen in anderen Bereichen wie etwa der Krankenversicherung, wo die Masse der Bevölkerung durch die Einführung eines allein von den Versicherten zu zahlenden Eigenanteils und die Anhebung der Eigenbeteiligung spürbar belastet wird.

 

All diese Entwicklungen erklären, warum die Vermögenskonzentration in Deutschland während der letzten Jahre spürbar zugenommen hat, ganz anders, als man angesichts der Sloterdijkschen Äußerungen annehmen sollte. Der Anteil der oberen zehn Prozent am privaten Vermögen ist allein zwischen 2002 und 2007 von schon beachtlichen 57,9 Prozent auf 61,1 Prozent gestiegen. Alle anderen Gruppen der Bevölkerung haben verloren. Die untere Hälfte weist in der Bilanz von Vermögen und Schulden sogar gar kein Vermögen mehr auf. Diese Entwicklung wird durch die jüngsten Steuergesetze der schwarz-gelben Koalition, sprich die Entlastung von Unternehmen und Erben, noch weiter vorangetrieben.

 

Ein genauerer Blick auf die Bundesrepublik zeigt eines mehr als deutlich: Sloterdijks Angriff auf den die Leistungsträger enteignenden Steuerstaat geht an der Wirklichkeit meilenweit vorbei. Die Feststellung der OECD, in keinem anderen OECD-Land hätten Einkommensungleichheit und Armut seit der Jahrtausendwende stärker zugenommen als in Deutschland, zeichnet ein realistisches Bild der Entwicklung.

 

Michael Hartmann ist Professor für Soziologie an der TU Darmstadt, einer seiner Schwerpunkte ist die Eliteforschung.

fr 29.12.09