Der Kampf der Kulturen findet kaum statt
Hunger, Misswirtschaft und Ausgrenzung
sind häufigste Ursachen politischer Gewalt / Vergleichsstudie von Aurel
Croissant und Hauke Hartmann
Die erschütternden Anschläge des 11.
September 2001 haben eine neue Form politischer Gewalt in westliche Metropolen
gebracht. Den Protagonisten des „Neuen Terrorismus“ scheint es primär um die
Maximierung von Todesopfern und weniger um die Durchsetzung greifbarer
politischer Ziele zu gehen. Das unterscheidet sie etwa von den westeuropäischen
Terroristen früherer Jahrzehnte. Letztere wollten, dass „viele Menschen
zuschauen, nicht dass viele Menschen tot sind“, wie der US-amerikanische
Terrorismusforscher Brian Jenkins vor einigen Jahren sarkastisch angemerkt hat.
Dieses neuere Phänomen einer uneingeschränkten und rücksichtslosen
Gewaltbereitschaft, die sich (wie in den Nahverkehrszügen von Madrid und
London) unangekündigt und scheinbar wahllos gegen jede und jeden richten kann,
erschüttert das Sicherheitsgefühl westlicher Gesellschaften.
Es ist deshalb nachvollziehbar, dass
sich die öffentliche Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf den transnationalen
und religiösen Terrorismus konzentriert. Es ist aber nicht sinnvoll. Das
Fokussieren auf einige wenige Merkmale nichtstaatlicher politischer Gewalt, die
zudem verallgemeinert werden, verstellt den Blick auf die Gewaltursachen und
erschwert die Entwicklung tauglicher Gegenstrategien.
Terrormotive meist nationalistisch
Lediglich 26 Prozent aller
terroristischen Gruppen weltweit lassen sich dem religiösen – und hier vor
allem islamistischen – Extremismus zuordnen. Sowohl
die Zahl religiös-extremistischer Gruppen als auch die von religiösem
Fundamentalismus ausgelöste Gewalt hat in den letzten zwanzig Jahren
kontinuierlich zugenommen. Im gleichen Zeitraum ist die Zahl gewaltbereiter
linksextremistischer Gruppen zurückgegangen, so dass heute auf religiösen
Fanatismus und Linksextremismus die gleiche Anzahl militanter Organisationen
zurückgeht. Den größten Anteil an politischer Gewalt haben aber nach wie vor
die nationalistischen und separatistischen Bewegungen in allen Erdteilen. Sie
stellen seit den 1970er Jahren über 30 Prozent aller militanten Gruppen und
derzeit etwa 36 Prozent. Während in jüngster Zeit ethno-nationalistische
Konflikte und die gewaltsame Unterdrückung von Minderheiten im Abnehmen
begriffen sind, bleiben Verteilungskämpfe um politische Macht oder Ressourcen
hauptverantwortlich für politische Gewalt.
Ein weiteres Missverständnis stellt der
besorgte Blick auf den transnationalen Terrorismus dar, der tatsächlich weit
mehr über das westliche Sicherheitsbedürfnis aussagt als über die tatsächlichen
Erscheinungsformen politischer Gewalt. Zwar haben transnational operierende
Organisationen wie El Kaida mitunter erfolgreich an
lokale militante Bewegungen angeknüpft, etwa auf den Philippinen, in
Indonesien, Pakistan, Afghanistan, Irak, Saudi-Arabien, Jemen, Algerien und in
Marokko. Besonders in Asien verwenden Milizen und Aufständische den islamistischen Überbau von El Kaida
gerne als zusätzliche Legitimation, ohne dass es realer Verbindungen an ein
transnationales Netzwerk bedarf. Soziale und nicht so sehr religiöse Motive
lösen die Gewaltbereitschaft aus. Noch immer ist jedoch die weitaus
überwiegende Zahl von politischen Gewalttaten auf lokale Ursachen wie Hunger,
Ungleichheit oder Entrechtung zurückzuführen, und noch immer wird die meiste
Gewalt fernab von westlichen Metropolen auch lokal ausgeübt.
Während die Zahl der Konflikte weltweit
gestiegen ist, hat das Ausmaß der eingesetzten Gewalt abgenommen. Dies zeigt
ein Blick auf die Heidelberger Daten für die 119 vom Bertelsman
Transformation Index 2006 untersuchten Staaten. Gewaltreiche Konflikte der
Kategorien „schwere Krise“ oder „Krieg“ sind zurückgegangen, und die
überwiegende Mehrheit der im letzten Jahr verzeichneten Konflikte (134 von 222)
waren als „latenter“ oder „manifester“ Konflikt unterhalb der Gewaltschwelle.
Nur in der Kategorie „Krise“, in der zumindest eine Konfliktpartei sporadisch
Gewalt einsetzt, war ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen.
Besonders konfliktträchtig sind Asien
sowie der Nahe und Mittlere Osten. Während die besonders gewaltintensiven
Konflikte in Asien zurückgegangen sind, ist der Level an politischer Gewalt im
Nahen und Mittleren Osten konstant hoch geblieben. In Anbetracht der großen
Aufmerksamkeit, die in Europa der politischen Gewalt im Nahen Osten beigemessen
wird, ist zudem zu betonen, dass der asiatische Raum beinahe dreimal so viele
politische Konflikte wie der nahöstlich-nordafrikanische Raum verzeichnet, auch
wenn die Konfliktintensität dort, insbesondere im Sudan und Irak, höher lag.
In struktureller Hinsicht bestätigt
sich die hohe Korrelation von autokratischer Herrschaft und politischer Gewalt.
Je weniger demokratische Elemente sich in den untersuchten Ländern finden
lassen, desto eher werden die bestehenden Konflikte mit höherer
Gewaltintensität ausgetragen. Wenn harte Autokratien nicht mehr in der Lage
sind, eine Friedhofsruhe aufrechtzuerhalten, mündet dies in besonders
gewalttätigen Auseinandersetzungen. In „moderaten“ Autokratien sieht die
Situation etwas besser aus, aber auch hier werden über die Hälfte der
politischen Konflikte gewaltsam ausgetragen. In defekten Demokratien – also
Staaten, in denen schwerwiegende Mängel hinsichtlich politischer Partizipation,
Rechtsstaatlichkeit oder Stabilität festzustellen sind, die aber gleichwohl
freie Wahlen zulassen und Grundrechte garantieren – reduzieren sich gewaltsame
Konflikte auf ein Drittel aller politischen Auseinandersetzungen, während die
konsolidierten Demokratien im BTI keinen einzigen Konflikt unter Einsatz von
Gewalt austragen.
Zahl der Opfer steigt
Für terroristische Aktivitäten in den
119 BTILändern lässt sich in den beiden letzten
Jahren ein ähnlicher Trend festhalten – die Zahl der Zwischenfälle steigt, die
Zahl der Opfer hingegen geht leicht zurück. Allerdings zeigen die Daten der
RAND/MIPT Terrorism Knowledge
Base, dass im Vergleich mit den Zahlen von 2001 ein sprunghafter Anstieg in
beiden Kategorien festzuhalten ist: von über 4000 Toten und Verletzten (2001)
zu knapp 13 000 (2005), und von über 700 auf über 2200 Anschläge hat in den
letzten fünf Jahren jeweils eine Verdreifachung stattgefunden.
Über 80 Prozent aller Anschläge
entfielen auf eine Kerngruppe von Staaten: Russland mit Tschetschenien,
Kolumbien, Irak sowie die beiden Konfliktdreiecke Indien – Kaschmir – Pakistan
und Thailand – Philippinen – Indonesien.
Während defekte Demokratien lediglich
42 Prozent der 119 im BTI untersuchten Staaten ausmachen, fanden knapp 80
Prozent aller Anschläge in den letzten vier Jahren auf ihrem Territorium statt,
hatten sie 72 Prozent der Toten und Verletzten zu beklagen. Eine Ursache
hierfür liegt im begünstigenden Umfeld, das defekte Demokratien terroristischen
Tätern bieten – häufig ein eingeschränktes Gewaltmonopol des Staates, ein
Mangel an Konsensbildung und Partizipationsmöglichkeiten, die Marginalisierung
größerer Bevölkerungsgruppen. Allerdings sind diese Zahlen lediglich als
numerische Auflistung von mitunter isolierten oder nur vereinzelt auftretenden
Zwischenfällen zu verstehen und sagen noch nichts über die generelle
Instabilität eines Landes oder die reale Stärke von Extremisten aus. Indien als
eines der Länder mit der höchsten Dichte an extremistischen Gruppen ist
zugleich in seiner demokratischen Ordnung nicht gefährdet.
Ursachen politischer Gewalt
...Die wesentlichen Ursachen für
politische Gewalt sind nach unseren Untersuchungen Armut, ethnische Spaltung,
Staatsschwäche, internationale Faktoren und Mängel des politischen Systems. Es
sind typischerweise Problemcluster aus mehreren dieser Ursachen, die zur
Herausbildung militanter Konflikte führen.
Die BTI-Daten
belegen, dass Armut an sich nicht zwingend gewaltsamen Protest nach sich zieht.
Es ist vielmehr das Empfinden von sozioökonomischer Ungerechtigkeit und
Marginalisierung, das benachteiligte Bevölkerungsgruppen zu den Waffen greifen
lässt. Ebenso wenig fördert ethnische Heterogenität an sich Gewalt. Erst deren
machtpolitische Instrumentalisierung führt zu einer gewaltsamen Aufladung, die
sich dann allerdings – wie auf dem Balkan oder in Zentralafrika – in besonders
blutigen Konflikten entladen kann. Prekäre Staatlichkeit und die Auflösung
gesellschaftlichen Zusammenhalts bieten militanten Organisationen ein günstiges
Umfeld, während internationale Faktoren wie Interventionen oder regionale
Instabilität teilweise erst dazu führen, dass bestehende politische Konflikte
mit Gewalt ausgetragen werden. Schließlich identifizieren unsere Untersuchungen
politische Strukturen, die Konsensbildung und Interessensausgleich abträglich
sind. Im Regelfall steht ein zentralistisches Präsidialregime einer
ausgleichenden Gewaltenteilung entgegen, während das Mehrheitswahlrecht zu
einer schlechteren Berücksichtigung der verschiedenen gesellschaftlichen Lager
führt als ein Proporzwahlrecht.
Fazit
Der viel beschworene Kampf der Kulturen
findet derzeit kaum statt. Politische Gewalt entlädt sich stattdessen in der
überwiegenden Mehrheit dort, wo Hunger, Misswirtschaft und Ausgrenzung die
Konflikte schüren. Aus sicherheitspolitischen wie humanitären Gründen sollte
dies die westlichen Länder trotzdem beunruhigen. Erstens ist der Anstieg von
transnationalem, religiös motiviertem Terror real, wenn auch längst nicht im
häufig suggerierten Ausmaß. Allerdings scheint es vielversprechender,
Integrationsanstrengungen zu forcieren, als zu glauben, dass
Abschottungsszenarien und Kontrollmechanismen umfassende Sicherheit bieten
könnten. Zweitens ist es zu Recht ein Anliegen der deutschen
Entwicklungspolitik, Demokratie und gutes Regieren zu fördern, auch um
politischer Gewalt entgegenzuwirken. Unsere Studie belegt insbesondere, dass
defekte Demokratien besonders anfällig für terroristische Aktivitäten sind.
Hier bietet sich an, gemeinsam mit den Partnerregierungen an der Behebung
dieser Defekte zu arbeiten, da konsolidierte Demokratien nahezu gewaltfrei
sind. Eine primär extern gestützte Demokratisierung hingegen, soviel haben die
Entwicklungen in den letzten Jahren gezeigt, hat wenig Aussicht auf Erfolg und
wirkt eher destabilisierend. Aussichtsreicher ist es deshalb, demokratischen
und reformbereiten Regierungen bei der Beseitigung der Ursachen zu helfen, die
überhaupt erst zur Ausbildung von politischer Gewalt führen.
MAUTH
© Copyright Frankfurter Rundschau
Ausgabe: Stadtausgabe (Nr. 271)
Datum: Dienstag, den 21. November 2006
Seite: 8