Der Hunger geht doch nicht zurück-Frankfurter
Rundschau, Samstag den 12.10.2013 Politik 1
Statistik verzerrt tatsächliche Lage
Der weltweite Hunger geht nach Analysen von
Nichtregierungsorganisationen entgegen offizieller Darstellungen nicht zurück.
Das evangelische Hilfswerk Brot für die Welt und die Menschenrechtsorganisation
FIAN machten dafür am Freitag in Berlin die Allianz von Politik und Konzernen
verantwortlich. In ihrem sechsten Jahrbuch zum Menschenrecht auf Nahrung
kritisieren die Organisationen anlässlich des Welternährungstags am kommenden
Mittwoch die Ernährungsprogramme der führenden Industrieländer sowie die
Biosprit-Politik der Europäischen Union. Agrar- und Nahrungsmittelkonzerne
bestimmten mit, wofür öffentliche Gelder ausgegeben würden.
Brot für die Welt und FIAN warnten auch davor, die zu Beginn
des Monats veröffentlichte Hunger-Statistik der Welternährungsorganisation FAO
als Indiz für einen Rückgang des globalen Hungers zu sehen. Die FAO geht in
ihren neuen Schätzungen von 842 Millionen hungernden Menschen weltweit aus, das
sind 26 Millionen weniger als 2012. Dieser Effekt sei aber vor allem neuen
Berechnungsmethoden geschuldet, hieß es.
Der Ernährungsexperte von Brot für die Welt, Bernhard
Walter, sagte, jeder achte Mensch auf der Welt hungere. Dafür sei eine Politik
mitverantwortlich, die es zulasse, dass Konzerne ihre Interessen „unter dem
Deckmantel der Hungerbekämpfung“ verfolgen könnten. Der US-Agrar-Multi Monsanto habe die afrikanischen Länder „fest im Griff“,
sagte Walter. Er wandte sich auch gegen die Biosprit-Politik. Ein Drittel der Argrarsprit-Pflanzen komme aus dem Ausland, vor allem Soja
aus Südamerika und Palmöl aus Indonesien. Dafür würden Bauern von ihrem Land
vertrieben oder arbeiteten zu Hungerlöhnen. epd Seite
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Frankfurter Rundschau, Samstag den 12.10.2013 Wirtschaft 12
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Schönrechnen mit Methode
Wie die UN-Organisation für Ernährung die Zahl der
Hungernden senkt / Experten fordern eine differenziertere Darstellung
Von Tobias Schwab
Nein, zum Jubeln war keinem zumute. Dafür sind die Zahlen in
ihrer Wucht dann doch zu deprimierend. Aber eine Erfolgsmeldung war der jüngste
Welternährungsbericht in der Interpretation der UN-Organisation für Ernährung
und Landwirtschaft (FAO) schon. „Hunger goes down –
Der Hunger nimmt ab“, betitelte die FAO in der vergangenen Woche ihren jüngsten
Report. Ihm zufolge ist die Zahl der chronisch Unterernährten zwischen 2011 und
2013 im Vergleich zur Vorperiode 2010/2012 um 26 Millionen oder drei Prozent
auf 842 Millionen gesunken.
Ein weiterer Etappenerfolg, so die Botschaft, auf dem Weg
ins Jahr 2015, bis zu dem die Ziele des Millenniumsprojekts der Vereinten
Nationen erreicht werden sollen. Allen voran das ambitionierte Ziel, den Anteil
der Hungernden weltweit zu halbieren.
Ernährungsexperten von Entwicklungsorganisationen und
Forscher nordamerikanischer Universitäten bezweifeln allerdings, dass die FAO
Not und Elend vollständig erfasst. Anlass der Kritik sind auch neue Methoden
zur Berechnung des Hungers, mit denen die FAO seit vergangenem Jahr operiert.
„Dadurch scheint der Hunger quasi wie von Geisterhand auf dem Rückzug“, sagt
Roman Herre, Agrarexperte der internationalen
Menschenrechtsorganisation FIAN (Food First Informations- und
Aktions-Netzwerk).
Grundsätzlich legt die FAO nach Ansicht der amerikanischen
Forscher unrealistisch niedrige Annahmen darüber zugrunde, wie viele Kalorien
Menschen in Entwicklungsländern brauchen. Die FAO geht von einem
„bewegungsarmen Lebensstil“ wie etwa bei Büroangestellten aus, was den angenommenen
Energiebedarf stark reduziert und enorme Auswirkungen auf die Statistik hat.
Würde stattdessen der „moderate Lebensstil“ einer Servicekraft vorausgesetzt,
stiege die Zahl der Hungernden sprunghaft von 842 Millionen auf rund 1,3
Milliarden Menschen, rechnen FIAN-Experte Herre wie auch die US-Experten vor.
Kalorienbedarf reduziert
Die FAO blende in ihren Statistiken aus, dass Menschen in
Entwicklungsländern sich oft nur mit extrem anstrengenden Arbeiten über Wasser
halten könnten. Als Erntehelfer auf Zuckerrohr- oder Kaffeeplantagen
beispielsweise oder mühselig ackernd auf der eigenen Parzelle. Weite Wege bis
zur nächsten Wasserstelle, das Sammeln von Brennholz, all das kostet Kraft.
Widersprüchlich ist, dass die FAO das zwar in kleingedruckten
Erläuterungen selbst so beschreibt und von „ausdauernden und anstrengenden
Arbeiten“ spricht, aber den Kalorienbedarf in ihren statistischen Kalkulationen
nicht entsprechend anpasst.
Problematisch sieht Herre auch,
dass Menschen nach FAO-Zählweise ein ganzes Jahr am Stück hungern müssen, bevor
sie als unterernährt in die Statistik eingehen. „Dadurch fallen beispielsweise
jene durchs Raster, die bedingt durch extreme Wetterereignisse ihre Ernte und
damit ihre Ernährungsgrundlage für mehrere Monate verlieren“, kritisiert der FIAN-Experte. Nicht erfasst werden auch Arme, die sich
wegen kurzfristiger Preissprünge Grundnahrungsmittel nicht mehr leisten können.
Oder Kleinbauern, die bereits vor der Ernteperiode die Vorräte des vergangenen
Jahres aufgebraucht haben.
In der neuen FAO-Methodik zur Berechnung der Hungerzahlen
spielt die Preisentwicklung bei Mais, Weizen und Reis jedenfalls eine weitaus
geringere Rolle. Hungerrevolten, wie sie sich in den Jahren 2007/2008 wegen
massiv steigender Preise in nahezu 40 Ländern ereigneten, finden damit künftig
in der Statistik keinen Niederschlag mehr.
Dass die FAO angesichts des neuen Welternährungsberichtes
davon spricht, „die Entwicklungsregionen als Ganzes“ hätten „signifikante
Fortschritte“ auf dem Weg zur Halbierung des Anteils der chronisch
Unterernährten erreicht, ist für die Kritiker nicht einmal die halbe Wahrheit.
Verschwiegen wird dabei, dass 80 Prozent des Rückganges der Hungerzahlen auf
das Konto von China und Vietnam gehen. In den 45 ärmsten Ländern der Welt dagegen
stieg die Zahl der Menschen, die nicht satt werden, um 25 Prozent oder 50
Millionen, wie ein Blick in die Tiefen der FAO-Statistik selbst zeigt.
Die UN-Organisation sendet auch nach Ansicht der
Hilfsorganisation Brot für die Welt, die gemeinsam mit FIAN am Freitag in
Berlin das „Jahrbuch zum Menschenrecht auf Nahrung 2013“ präsentierte,
trügerische Signale. FIAN-Experte Herre
spricht sogar von einer „fantastischen Neuinterpretation der Resultate der
Hungerbekämpfung“. Noch vor zwei Jahren habe die ganze Welt vom grandiosen
Scheitern der Bemühungen gesprochen, den Anteil der Unterernährten bis 2015
weltweit zu halbieren. Jetzt werde rund um den Globus mit Berufung auf die FAO
plötzlich davon geredet, „dass wir auf dem besten Weg sind, das Ziel doch noch zu
erreichen“, sagt Herre. Ähnlich habe sich
beispielsweise auch Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner (CSU) geäußert.
Die Statistik der UN-Organisation gibt nach Ansicht von
FIAN, Brot für die Welt und der amerikanischen Experten jedenfalls kaum eine
realistische Zahl der Hungernden wieder und verleitet zu falschen Schlüssen.
Die FAO, fordern die Kritiker, müsse die Ergebnisse ihrer Erhebungen zumindest
differenzierter kommunizieren. Die US-Forscher etwa raten in ihrer Studie „How We Count
Hunger Matters“ unter anderem dazu, die Zahl der
Hungernden mit einer Bandbreite anzugeben. Im jüngsten FAO-Report müsste die
dann zwischen 842 Millionen und 1,3 Milliarden liegen.
Frankfurter Rundschau, Freitag den 11.10.2013 Wirtschaft 13
Die Armen helfen sich selbst
Weltbank: Bis 2020 soll weniger als ein Zehntel der
Menschheit in extremer Not leben müssen
Von Markus Sievers
Im Kampf gegen extreme Armut ist die Menschheit dank der
enormen wirtschaftlichen Entwicklung in Schwellenländern wie China, Indien oder
Brasilien vorangekommen. Doch noch immer haben 1,2 Milliarden Männer, Frauen
und Kinder weniger als 1,25 Dollar am Tag zum Überleben. Nicht einmal einen
Euro haben sie also für Essen, Unterkunft, Strom und Kleidung, von Bildung oder
Medizin ganz zu schweigen. Damit leben sie nach Weltbankdefinition in extremer
Armut.
Nun strebt Weltbankpräsident Jim Yong
Kim den nächsten Schritt an: Spätestens 2020 soll weniger als ein Zehntel der
Menschheit in extremer Not leben. Das wäre das erste Mal in der Geschichte,
dass diese Rate unter die Schwelle von zehn Prozent fallen würde. Aber selbst
wenn das gelänge, wären dann immer noch 690 Millionen Menschen extrem arm. Das
verschweigt Kim nicht, betont aber zugleich: Das wäre eine halbe Milliarde
weniger als eine Dekade zuvor und entspreche der halben Einwohnerzahl von
Afrika oder der doppelten von Indonesien. „Dieses Ziel erinnert uns daran, dass
wir an der Schwelle dazu sind, Geschichte zu schreiben.“ Es sei möglich, die
Schande ganz zu beseitigen, dass Menschen in solchen Umständen leben müssten.
Die Weltbank strebt an, dass bis 2030 kein Mensch mehr von weniger als 1,25
Dollar am Tag leben muss.
Fortschritte in Afrika
Haupttreiber ist im Kampf gegen das Elend ist nach Ansicht
der Experten aber nicht die Solidarität der reichen Länder. So hat die
scheidende schwarz-gelbe Bundesregierung das Versprechen, die Entwicklungshilfe
auf 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen, zurückgezogen. Zu teuer,
lautete knapp gesagt die Begründung. Nur eine Minderheit der wohlhabenden
Nationen erfüllt diese Verpflichtung.
Dennoch ist es gerade in Asien sehr bevölkerungsreichen
Ländern gelungen, die Globalisierung für sich zu nutzen. In der Folge ist vor
allem im früher sehr armen China trotz enormer sozialer Spannungen der
Lebensstandard für hunderte Millionen Menschen gestiegen. In jüngerer Zeit
kommen ermutigende Zeichen auch aus Afrika, das bis dahin als verlorener und
hoffnungsloser Kontinent galt.
Die Nichtregierungsorganisation Oxfam
lobte die neue Zielsetzung Kims als starkes Zeichen, dass er es ernst meine mit
den Anstrengungen für eine Welt ohne Armut. „Den ehrgeizigen Zielen müssen
jetzt aber ehrgeizige Taten folgen“, betonte ein Oxfam-Sprecher.
Nötig sei, den Fokus der Wirtschaftspolitik stärker auf die Förderung von
Bildung und Gesundheit und auf eine gerechte Einkommensverteilung zu legen. In
der Theorie habe die Weltbank dies bereits anerkannt.