Abgeordnete hungern –
so wie Millionen US-Amerikaner
US-Abgeordnete haben sich eine Woche lang von 21 Dollar
ernährt, um auf den Hunger im reichsten Land der Welt aufmerksam zu machen.
Von Dietmar Ostermann
Am fünften Tag hatte Tim Ryan noch eine Tüte Maismehl, 33
Cent und 48 Stunden, die er aushalten musste. Seine geliebte Erdnussbutter war
an der Sicherheitsschranke auf dem Flughafen eingezogen worden, und der
Kongressabgeordnete aus Ohio konnte die Beamten nicht überzeugen, dass es
Schlimmeres gibt als Terrorangst – Hunger zum Beispiel.
Der existiert zwar offiziell in den USA nicht mehr, seit ihn
die Regierung aus der Welt geschafft hat, indem sie den Begriff
„Lebensmittelunsicherheit“ erfand. 35 Millionen US-Bürger aber mussten 2005
zumindest vorübergehend hungrig ins Bett gehen. 26 Millionen Menschen erhalten
„Food Stamps“, die staatliche Lebensmittelhilfe. Die
beläuft sich im Schnitt auf 21 US-Dollar pro Woche. Macht drei Dollar pro Tag
oder einen Dollar pro Mahlzeit.
Wie man sich davon ernährt, haben Tim Ryan und drei weitere
Kongresskollegen jetzt sieben Tage lang im Selbstversuch getestet. Ryan wollte
mit Erdnussbutter-Toasts auf billigem Weißbrot über die Woche kommen, sein
Kollege Jim McGovern aus Massachusetts mit Nudeln, Reis, Linsen und Bananen.
Auf dem Speiseplan von Jo Ann Emerson, der einzigen
Republikanerin, die die „Food Stamp-Herausforderung“
annahm, stand vor allem Hühnerbrust, nachdem sie eine Familienpackung günstig
im Sonderangebot ergattert hatte. Ihre Kollegin Jan Schakowsky
aus Illinois baute auf Tunfisch aus der Dose. Cola und Kaffee konnten sich die
hungernden Abgeordneten so wenig leisten wie Obst oder Gemüse.
Müde, mürrisch, kraftlos habe er sich schon nach wenigen
Tagen gefühlt, gab Ryan zu Protokoll, der außerdem unter Koffeinentzug litt.
„Ich habe Probleme, mich zu konzentrieren“, meinte der 1,90-Meter-Mann. Abends
sei er früher und erschöpft ins Bett gegangen. In den ersten drei Tagen nahm er
fünf Kilo ab. Sein Fazit: „Es ist unmöglich, sich mit so einem Budget
ausreichend und ausgewogen zu ernähren. Das ist besonders schädlich für Kinder.
Die gehen hungrig in die Schule, können nicht richtig lernen, und der Kreislauf
der Armut setzt sich fort.“
Lisa McGovern, die für sich und ihren Mann 42 Dollar an
Nahrungsmittel-Etat verwaltete, fand es besonders schwer, „jemandem, den man
liebt, am Küchentisch zu sagen, tut mir leid, das war’s für heute“. Als Ehemann
Jim vorige Woche bei einem Spendendinner für Hillary Clinton vor dem dampfenden
Buffet stand, hätte er fast hingeschmissen. Stattdessen holte er seine
Plastik-Lunchbox raus und kaute trockenen Reis.
Ziel der ungewöhnlichen Aktion war nicht nur, Aufmerksamkeit
für Hunger und die seit Jahren wieder steigende, aber kaum beachtete Armut in
den USA zu wecken. Im neuen Landwirtschaftsgesetz will das Quartett 20
Milliarden Dollar mehr für staatliche Lebensmittelhilfen in den nächsten fünf
Jahren durchsetzen.
„Die meisten Empfänger von Food Stamps
haben Jobs und arbeiten hart, können ihre Familien aber nicht ernähren“,
erklärte Initiator McGovern, „es ist ein Skandal, wenn Millionen Menschen im
reichsten Land der Welt hungern.“
CWEINEL
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Ausgabe: Stadtausgabe (Nr. 118)
Datum: Mittwoch, den 23. Mai 2007
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