Hessens Krankenkassen wittern Betrug
Hunderte falsch gemeldeter Bezieher von Arbeitslosengeld II / Kreise und Kommunen weisen Verdacht zurück
Die allgemeinen Krankenkassen in Hessen werfen Kommunen und Kreisen vor, nicht erwerbsfähige Hilfeempfänger als Arbeitslosengeld II-Bezieher zu melden. Der Verdacht, die Sache habe Methode, um Krankenkosten zu sparen, wird aus Frankfurt und dem Umland zurückgewiesen.
VON ANITA STRECKER
Frankfurt · 27. Februar · "Wir betrügen nicht." Weder den Bund, sagt Frankfurts Sozialdezernent Franz Frey (SPD), noch die Krankenkassen. "Es gibt auch keine Order an unsere Mitarbeiter, den Kassen nicht Erwerbsfähige als ALG II-Empfänger zu melden." Die Krankenversicherer wie etwa die AOK Hessen sind sich da allerdings nicht so sicher, wie AOK-Sprecher Riyad Sahli bestätigt: "Bisher gehen wir landesweit von mehreren hundert Fällen aus, bei denen uns erwerbsfähige ALG II-Bezieher gemeldet wurden, die es offenkundig nicht sind." Jugendliche unter 15, Rentner über 65, Schwerkranke, Pflegebedürftige und sogar Personen, die Erwerbsunfähigkeitsrente beziehen.
Auch bei der Barmer Hessen sind etliche dieser offensichtlichen Fehlmeldungen aufgefallen, bestätigt Sprecherin Brigitte Schlöter. "Wir haben uns deshalb ans Bundeswirtschaftsministerium gewandt und den Verband der allgemeinen Krankenkassen (VdaK) gebeten, die Sache zu überprüfen." Das läuft gerade, sagt VdaK-Sprecher Meinhard Johannides, der nach ersten Umfragen bei den Kassen gleichfalls nicht mehr nur von Zufall reden will. Schließlich gehe es um viel Geld. Mit jedem Sozialhilfeempfänger, der zum ALG II-Empfänger wird, sparten die Kreise und Kommunen eine Stange Geld: Müssen sie für Sozialhilfeempfänger jede Behandlung, jedes Medikament plus Verwaltungskosten auf Euro und Cent mit den Kassen abrechnen, erhalten ALG II-Empfänger den Lebensunterhalt vom Bund und werden bei den gesetzlichen Kassen pflichtversichert. Zum Monatsbeitrag von 123 Euro.
Millionen zusätzlicher Kosten
Das wiederum schmeckt den Kassen nicht, auf die mit der Masse an Hartz IV-Versicherten Millionen zusätzlicher Kosten zukommten, wie Johannides sagt: "Die durchschnittlichen Ausgaben für einen Versicherten liegen bei 2500 Euro im Jahr. Ein ALG II-Bezieher zahlt nur knapp 1500 Euro ein."
Dass die AOK mit ihren hessenweit 93 000 ALG II-Beziehern nicht glücklich ist, kann Sozialdezernent Frey nachvollziehen. Gleiches gelte für den Bund, der von deutlich weniger ALG II-Berechtigten ausgegangen war. Deshalb aber pauschal von vorsätzlichen Falschmeldungen zu reden, sei politisch unklug. Schließlich hätten die kommunalen Spitzenverbände von Anfang an gewarnt, dass die erwartete Zahl von ALG II-Beziehern zu niedrig angesetzt sei.
"Bei den Fehlmeldungen handelt es sich allenfalls um Einzelfälle, bei denen vielleicht Fehler bei der Eingabe passiert sind", beteuern Robert Standhaft, Geschäftsführer der Rhein-Main Job Center GmbH in Frankfurt, und sein Offenbacher Kollege Stephen Spieker von der Main-Arbeit GmbH unisono. Oder es handele sich um strittige Fälle. "Man sieht es den Leuten ja nicht an, dass sie nicht erwerbsfähig sind, wenn sie es nicht selbst im Antrag angeben." Schwere oder chronische Krankheiten, Suchtprobleme, eine HIV-Infektion oder Obdachlosigkeit bedeuteten nicht, dass die Betroffenen nicht die verlangten drei Stunden am Tag arbeiten können, sagt Standhaft. "Stellt sich heraus, dass zum Beispiel ein psychisch Kranker keine drei Stunden durchhält, wird das eben korrigiert."
Ähnlich argumentiert Wolfgang Hessenauer (SPD), Sozialdezernent von Wiesbaden, das Hartz IV-Betroffene in Eigenregie betreut. "Bei der Debatte wird nie unterschieden, ob jemand gerade nicht arbeiten kann oder ob er tatsächlich erwerbsunfähig ist." Eine allein Erziehende, die wegen ihrer Kinder nicht arbeiten kann, sei nicht erwerbsunfähig und somit ALG II-berechtigt. Bei strittigen Fällen indes werde grundsätzlich das Gesundheitsamt um ein Gutachten gebeten.
Den Verdacht der Kassen nennt Hessenauer ungeheuerlich. "Keine Verwaltung ist doch so blöde, dass sie rechtswidriges Verhalten anordnet." Jeder Fehler falle schließlich auf die Kommune zurück, die alle Kosten zudem zurückerstatten müsse. Im Streit um Hartz IV-Kosten werde ein Problem aufgebauscht, "in der kurzen Zeit können die Kassen gar nicht festgestellt haben, ob jemand berechtigt ist oder nicht".
Die Kassen indes argumentieren mit Zahlen, wobei ihr Misstrauen vor allem optierenden Kommunen und Kreisen gilt. Dem Hochtaunuskreis zum Beispiel, dessen frühere Zahl an Sozialhilfeempfängern fast genau der der aktuellen ALG II-Berechtigten entspreche, wie VdaK-Sprecher Johannides bemerkt.
Hochtaunus-Landrat Jürgen Banzer (CDU) widerspricht und weist auch den Verdacht bewusster Falschmeldungen zurück. Etwa 1100 Menschen erhielten Lebensunterhalt noch vom Kreis und von den 5049 AlG II-Beziehern seien 48 bereits als nicht erwerbsfähig erkannt worden, weitere 289 Fälle würden überprüft. "So lange kein ärztliches Attest die Erwerbsunfähigkeit bestätigt, gehen wir vom Gegenteil aus."
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Dokument erstellt am 27.02.2005 um 19:44:04 Uhr
Erscheinungsdatum 28.02.2005
ARBEITSLOSENGELD II
Lautenschläger nimmt Kommunen in Schutz
Wiesbaden · 27. Februar · lhe · Im Streit um die Einstufung beim Arbeitslosengeld II hat Hessens Sozialministerin Silke Lautenschläger (CDU) die Kommunen gegen Angriffe von Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) in Schutz genommen: "Ich bin sicher, dass der große Teil richtig eingestuft worden ist." Clement suche nur einen Sündenbock für seine schlecht vorbereitete Hartz IV-Reform. "Die Kommunen haben ihm immer gesagt, dass die Zahl der ALG-II-Empfänger deutlich über seinen Prognosen liegen würde."
Hessenweit waren nach Angaben von Lautenschläger im Januar rund 193 000 ALG II-Empfänger registriert - etwa ein Zehntel mehr als vom Bunde geschätzt worden war. Im Februar werde die Zahl noch steigen, weil bisher ganze Landkreise in Hessen noch nicht statistisch erfasst seien. Das liege daran, dass die Bundesagentur Software verspätet zur Verfügung gestellt habe.