„Was fehlt, sind Arbeitsstellen“

In den Jobcentern wissen die Berater: Die hohen Hartz-IV-Kosten zeigen nur,

wie viele Arme es in Deutschland gibt

Moralische Appelle gegen Abzockermentalität oder den Missbrauch von

Hartz-IV-Leistungen verschleiern die

wahren Probleme, warnen Gewerkschafter und Arbeitsvermittler. Die hohen

Hartz-IV-Kosten offenbarten vielmehr das Ausmaß an Armut im Land. Und der

sei nur mit mehr Arbeitsstellen abzuhelfen.

Frankfurt a. M. · Heike Hengster, stellvertretende Geschäftsführerin des

Rhein-Main Jobcenter in Frankfurt am Main ist die Schlagzeilen in den

Medien und das Berliner Lamento über „unerwartet hohe Hartz-IV-Kosten

leid. Ebenso Debatten über Leistungsmissbrauch. Auch moralische Appelle an

Abzocker, wie jetzt vom SPD-Vorsitzenden Kurt Beck zu hören, treffen ihrer

Meinung nicht das Problem. Die Kosten seien nicht „explodiert“, sagt die

Arbeitsvermittlerin, sondern spiegeln schlicht die Realität der Bedürftigkeit.

Allein in Frankfurt beziehen 11 000 Geringverdiener ergänzende Leistungen

aus dem Arbeitslosengeld-II-Topf, weil sie von ihrem Einkommen nicht leben

können. Das ist ein hoher Anteil der 28 700 in Frankfurt registrierten

erwerbsfähigen Alg II-Bezieher. Aus Scham, auf Stütze angewiesen zu sein,

haben sich viele Geringverdiener vor Hartz IV irgendwie alleine

durchgeschlagen, sagt Heike Hengster. „Die Hemmschwelle, Arbeitslosengeld

zu beantragen, ist niedriger.“ Dies gelte auch für Kleinselbstständige, die

sich mehr schlecht als recht über Wasser hielten und sich seit Hartz IV

verstärkt arbeitslos meldeten: weil Wohnkosten übernommen werden, weil sie

dadurch Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung erhalten. „Kein

Missbrauch, alles lässt das Gesetz zu.“

Aus Sicht Harald Fiedlers, DGB-Gewerkschaftssekretär im Bezirk

Frankfurt/Rhein-Main, spiegelt die registrierte Zahl der Aufstocker sogar

nur einen Teil der Wahrheit: „Wenn alle Menschen mit prekären

Arbeitsverhältnissen ihre Ansprüche auf das gesetzliche Existenzminimum

geltend machen würden, wären die Kosten beträchtlich höher.“ Die geplanten

Leistungskürzungen verschleierten nur das Problem, dass eine Masse an

Menschen in Deutschland arm ist.

Missbrauch kaum messbar

Dass Missbrauchsdebatten gegen die Existenznot nicht weiterhelfen, hatten

die Frankfurter Arbeitsvermittler schon im Herbst angemahnt, als der

damalige Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) zur ersten Hatz auf

Abzocker ansetzte. Etwa 20 Prozent der Alg-II-Bezieher erschlichen sich

Leistungen, lautete der Vorwurf, von „einem bis drei Prozent“ sprachen die

Frankfurter aus ihrer Erfahrung.

Als Sündenböcke führte Clement junge Erwachsene ins Feld, die von zuhause

auszögen, um als eigene Bedarfsgemeinschaft Alg II zu kassieren. Dem hat

der Gesetzgeber nun einen Riegel vorgeschoben – dass er damit spürbar

spart, bezweifelt Robert Standhaft, Geschäftsführer im Frankfurter

Jobcenter: „Der Anstieg bei den Single-Beziehern unter 25 Jahren war

voriges Jahr nur als zweite Stelle hinterm Komma zu spüren.“ Peanuts also.

„Was fehlt, sind Stellen.“

Andernfalls werden auch die vom Bund geplanten Leistungskürzungen und

Einschränkungen für Alg-II-Bezieher kaum Entlastung bringen, prophezeit

Jobcenter-Vize Hengster. „Was bringt es, dass ein Langzeitarbeitsloser

seine Ansprüche verliert, sobald er drei Stellen ablehnt, wenn ich gar

keine Stellen habe, die ich ihm anbieten kann?“

„Mehr Investitionen!“

„Es muss Arbeit geschaffen werden.“ DGB-Chef Harald Fiedler sieht nicht nur

die Wirtschaft in der Pflicht, sondern auch die öffentliche Hand von

Europäischer Union (EU) über den Bund bis zu den Kommunen: mit

Investitionen, die Stellen schaffen, mit Beschäftigungsprogrammen auf dem

zweiten Arbeitsmarkt. 40 Millionen Euro steckte Frankfurt früher in

Beschäftigungsprogramme, sagt Fiedler. Seit Hartz IV ist damit Schluss,

obwohl die Stadt durch die Reform jährlich 35 Millionen Euro an

Sozialhilfekosten spare. „Das Geld muss wieder in Arbeit fließen.“ Anita

Strecker

 

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Ausgabe: Stadtausgabe (Nr. 133)

Datum: Samstag, den 10. Juni 2006

Seite: 4

 

„Mitnahme bekämpfen“

Debatte über Hartz-Reform

Berlin · Nach der Kostenexplosion bei den Hartz-IV-Leistungen wird der Ruf

nach Einschnitten und Sanktionen lauter. Eine Staffelung des

Arbeitslosengeldes I nach der Dauer der Beitragszahlung forderte der

nordrhein-westfälische Arbeitsminister Karl-Josef Laumann. Wer lange

eingezahlt hat, muss länger gestützt werden als der, der nur kurze Zeit

versichert war“, sagte der CDU-Politiker dem Westfalenblatt vom Samstag.

Die SPD hat die flächendeckende Einführung von Beschäftigungsgesellschaften

für Langzeitarbeitslose ins Gespräch gebracht. Damit könnten „bis zu 400

000 Menschen in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse gebracht

werden – zu tariflichen oder ortsüblichen Löhnen“, sagte der

arbeitsmarktpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Klaus Brandner,

in einem Gespräch mit dpa.

„Der Arbeitslose darf sich nicht besser stellen als ein Arbeitnehmer“,

sagte der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU).

Einem Arbeitssuchenden sei „wirklich fast jede normale Erwerbstätigkeit

zuzumuten“. Wer nicht mitmache, müsse mit empfindlichen Geldeinbußen

rechnen. Oettinger kündigte in der Welt am Sonntag zwar die Zustimmung

seines Bundeslandes zum „ Hartz-IV-Fortentwicklungsgesetz“ im Bundesrat an.

„Wir tragen die Reform mit, aber es ist zu wenig.“ Das Gesetz sieht bereits

Verschärfungen für Langzeitarbeitslose vor. „Unsere Zustimmung wird

verbunden sein mit der Mahnung, einen zweiten Reformschritt folgen zu

lassen. Der muss die Mitnahme- und Missbrauchseffekte bekämpfen.“

Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck hat von den Unternehmen mehr

Ausbildungsplätze gefordert. Es gebe viele Firmen, deren Bemühungen um

Lehrstellen lobenswert seien. „Es gibt aber 30 bis 40 Prozent Unternehmen,

die sich vor diesen Anstrengungen drücken, und das ist nicht in Ordnung“,

sagte Beck am Samstag beim Landesparteitag der niedersächsischen SPD in

Wolfsburg. „Wer heute nicht ausreichend ausbildet, wird morgen nicht

ausreichend Fachkräfte zur Verfügung haben.“ dpa/rtr/ap

 

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Ausgabe: Stadtausgabe (Nr. 134)

Datum: Montag, den 12. Juni 2006

Seite: 4

 

Schuldzuweisung Becks ist nicht zu belegen

Zahl der Alg-II-Empfänger ist zwar unerwartet hoch, Experten führen das aber nicht auf Mitnahmeeffekte zurück / Hartz IV als Krankenversicherung

SPD-Chef Kurt Beck hat vor dem Hintergrund steigender Kosten Empfängern von Arbeitslosengeld II vorgeworfen, in moralisch verwerflicher Weise gesetzliche Möglichkeiten zu nutzen. „Da hat sich wirklich etwas zum Schlechten verändert“, sagte Beck. Zu belegen ist dies nicht.

Berlin · Ex-Arbeitsminister Wolfgang Clement (SPD) hatte noch von Missbrauch, also von Gesetzesverstößen, gesprochen, von 20 Prozent aller Alg-II-Bezieher, die wie „Parasiten“ den Sozialstaat ausbeuteten. Nachdem weder die Zahl belegbar noch die Formulierung in der SPD mehrheitsfähig war, hat Beck jetzt in einem Interview der Welt angeblich sozialsstaatsschädliches Verhalten neu beschrieben. „Man muss nicht alles rausholen, was geht“, heißt es jetzt. Und: „Es gibt Dinge, die macht man nicht.“ Die Welt machte daraus eine Frage des „Anstands“.

Überspitzt formuliert, sagt Beck: Nicht alles, was ein Alg-II-Empfänger darf, darf ein Alg-II-Empfänger. Er bettet dies in eine gesamtgesellschaftliche Betrachtung, tadelt Manager, die keine Steuern mehr zahlen, sowie Chefs, die ihre Unternehmen ruinieren und anschließend Millionenabfindungen kassieren – schlechte Vorbilder also, die Alg-II-Empfänger verdürben. Beck fügt an, dass „der Staat natürlich jede Lücke bedenken und schließen“ könnte, aber man regele ja auch nicht „dass man anderen nicht vor die Füße spuckt“. Hier müsse der Einzelne seiner „Verantwortung für die Gemeinschaft“ gerecht werden.

Spareffekte gering

Die große Koalition ist derzeit bemüht, die Kosten der Arbeitslosigkeit in den Griff zu kriegen. In diesem Kontext stehen die Beck’schen Äußerungen. Die Zahl der Alg-II-Empfänger ist in der Tat unerwartet hoch. Beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg taugt dies allerdings nicht als Nachweis für die These, dass legale, vom Gesetzgeber nicht bedachte Mitnahmeeffekte die Kosten in die Höhe treiben. Zumal das Beck’sche Beispiel vom Abiturienten, der in die Einliegerwohnung der Eltern zieht, um legal Sozialleistungen zu beziehen, verfehlt ist. Die große Koalition hat hier bereits einen Riegel vorgeschoben.

Auch die Behauptung Becks, es habe sich „etwas zum Schlechten verändert“, lässt sich nicht belegen. Bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) geht man davon aus, dass beim Aufdecken von echtem Leistungsmissbrauch bei Hartz-IV-Empfängern die Spareffekte deutlich geringer ausfallen, als von der Bundesregierung erwartet. Nur fünf Prozent der Langzeitarbeitslosen hätten in der Vergangenheit Alg II zu Unrecht neben weiteren, nicht angegebenen Einkünften erhalten.

Gleichwohl beobachten die Wissenschaftler nach der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe einen auffälligen Anstieg der Leistungsempfänger, der nicht allein konjunkturelle Ursachen haben kann. Helmut Rudolph, IAB-Forschungsleiter und Experte für die Niedrigeinkommen, vermutet dafür drei Gründe: Erstens sei die Schamschwelle gesunken. Auf Sozialhilfe, auf die „Stütze“ angewiesen zu sein, gelte als Makel, Alg-II werde eher als „Versicherungsleistung“ angesehen.

Kassenkarte begehrt

Dunkelzifferstudien hätten in der Vergangenheit auch ergeben, dass eine beachtliche Zahl von Leistungsberechtigten aus Angst vor Stigmatisierung keine Sozialhilfe beantragten. Armut, Langzeitarbeitslosigkeit und die Perspektivnot vieler Jugendlicher als Problem besser sichtbar zu machen, war ein zentrales Ziel der Sozialdemokraten, als sie Hartz IV verabschiedeten. Dies sei durchaus gelungen, meint Rudolph.

Zweitens hätten vor Hartz IV viele nicht gewusst, dass sie wegen ihres geringen Haushaltseinkommens Anspruch auf Sozialhilfe hatten, sagt Rudolph. Durch die öffentliche Debatte über Hartz IV seien diese Betroffenen erst auf ihre Rechte aufmerksam geworden. Drittens sind Alg-II-Empfänger, anders als Sozialhilfeempfänger, gesetzlich krankenversichert. Möglicherweise ein Grund dafür, dass viele Selbstständige Alg-II beantragen, sagt Rudolph. Für Selbstständige, die finanziell auf wackeligen Beinen stehen, sei dies eine Chance, Gesundheitskosten abzusichern, selbst wenn an Alg-II nur 20 oder 30 Euro monatlich bezogen werden. Die „Generation Praktikum“, die fragile Beschäftigungsverhältnisse und geringe Bezahlung akzeptiert, wisse offenbar die Krankenkassenkarte als ein vom Gesetzgeber geschaffenes, stabilisierendes Angebot zu nutzen, sagt Rudolph. „Das soziale Netz“, so Rudolph, „wurde mit Hartz IV tiefer gehängt, aber mit festeren Maschen versehen“. Dies sei politisch gewollt gewesen. Es sei deshalb nicht redlich, wenn den Betroffenen signalisiert werde: „Jetzt bist Du drin, jetzt bist Du unanständig.“ Thomas Maron

 

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Ausgabe: Stadtausgabe (Nr. 132)
Datum: Freitag, den 09. Juni 2006
Seite: 4

 

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