Untersuchung in den neuen WSI Mitteilungen
30.05.2011
Hartz-IV-Reform hat
durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit nicht reduziert
Die vierte Hartz-Reform sollte
arbeitsfähigen Bedürftigen schneller neue Arbeitsplätze verschaffen. Eine
statistische Auswertung zeigt: Das hat nicht funktioniert. Arbeitslose sind
nach der Reform im Durchschnitt ebenso lang ohne Job wie vorher. Zu diesem
Ergebnis kommen Sonja Fehr, Soziologin im Institut
für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), und Prof. Dr. Georg Vobruba von der Universität Leipzig. Ein Aufsatz zu ihrer
Untersuchung ist in den aktuellen WSI Mitteilungen erschienen, der
Fachzeitschrift des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI)
in der Hans-Böckler-Stiftung.
Sonja Fehr und Georg Vobruba verglichen die Dauer der Arbeitslosigkeit von
Sozialleistungsempfängern vor und nach der Hartz-IV-Reform.
Nach der gängigen ökonomischen Logik wäre zu erwarten gewesen, dass
erwerbsfähige Hilfsbedürftige vor der Reform relativ lange von Arbeitslosen-
oder Sozialhilfe gelebt haben. Nachdem die Transferleistungen für viele
gekürzt, auch schlecht bezahlte Jobs für zumutbar erklärt und Sanktionen für
die Ablehnung eines Stellenangebots verschärft wurden, hätte die
durchschnittliche Verweildauer in der Grundsicherung demnach zurückgehen
müssen. Dies ist jedoch nicht geschehen. "Die Hartz-IV-Reform
hat keine deutliche Verkürzung der Arbeitslosigkeitsepisoden gebracht",
lautet das Fazit der Wissenschaftler.
Fehr und Vobruba
stützen sich auf Daten des Sozio-oekonomischen
Panels, einer jährlichen repräsentativen Haushaltsbefragung. Sie betrachten
ausschließlich Arbeitslose, die im Beobachtungszeitraum Sozial- oder
Arbeitslosenhilfe beziehungsweise Arbeitslosengeld II (ALG II) bekamen.
Hilfsbedürftige, die dem Arbeitsmarkt etwa wegen Betreuungsaufgaben nicht zur
Verfügung standen, oder so genannte Aufstocker
bleiben außen vor. Zwar ist die Gruppe der erwerbsfähigen Sozialhilfe- und
Arbeitslosenhilfeempfänger vor der Hartz-IV-Reform
nicht identisch mit der Gruppe der späteren ALG-II-Bezieher
- vor allem weil rund 17 Prozent der Arbeitslosenhilfe-Haushalte wegen
verschärfter Vorschriften zur Anrechnung von Vermögen und Einkommen anderer
Haushaltsmitglieder nach der Reform leer ausgingen. Dennoch unterscheiden sich
die beiden Gruppen hinsichtlich Ausbildung, Alter, Geschlecht und anderer
Merkmale nicht stark. Daher seien "keine gravierenden Unterschiede in den
Arbeitsmarktchancen" zwischen den Vergleichsgruppen zu erwarten, schreiben
die Forscher.
Sie verglichen die Dauer der Erwerbslosigkeit von
Arbeitslosen- oder Sozialhilfebeziehern, die zwischen Januar 2002 und Dezember
2004 arbeitslos wurden, mit der Entwicklung nach Inkrafttreten der Reform: bei
Arbeitslosen, die zwischen Januar 2005 und Dezember 2007 ALG II bekamen. Die
Stichprobe besteht aus 2.200 Personen für die erste und etwas weniger als 1.700
Personen für die zweite Gruppe.
Vor Hartz IV dauerte die
Arbeitslosigkeit im Mittel 12 Monate. Nach einem Jahr hatten 49 Prozent der
betrachteten Arbeitslosen entweder einen Job oder standen dem Arbeitsmarkt aus
anderen Gründen nicht zur Verfügung, beispielsweise wegen Aus- und
Weiterbildung, Mutterschaft oder weil sie das Rentenalter erreicht hatten. Im
zweiten Jahr ging die Arbeitslosigkeit um weitere 20, im dritten noch einmal um
11 Prozentpunkte zurück. Damit waren nach vier Jahren noch 13 Prozent
arbeitslos (siehe auch die Infografik im Böckler
Impuls; Link unten).
Nach der Hartz-IV-Reform dauerte
die Arbeitslosigkeit im Mittel 13 Monate. Nach etwas über einem Jahr war für 50
Prozent der ALG-II-Bezieher die Arbeitslosigkeit
beendet. Im Folgejahr sank der Anteil der Arbeitslosen um weitere 20, im Jahr
darauf um 10 Prozentpunkte. Nach vier Jahren waren 16 Prozent weiterhin
arbeitslos.
Die Forscher folgern: "Trotz des Versuchs, mit
Maßnahmen der Aktivierungs- und verschärften Zumutbarkeits- und
Sanktionsregelungen den Übergang vom Sozialleistungsbezug in die
Erwerbstätigkeit zu forcieren, trat keine wesentliche Veränderung der
Verweildauer von Sozialtransferbeziehern in Arbeitslosigkeit ein." Weitere
Berechnungen, die Faktoren wie Alter, Bildungsabschluss oder regionale
Arbeitslosenquote einbeziehen, zeigen: Das Ergebnis lässt sich nicht auf eine
verschlechterte Arbeitsmarktsituation oder veränderte Zusammensetzung der Arbeitslosengruppe
nach der Reform zurückführen.
Fehr und Vobruba
haben eine andere Erklärung. Die Therapie konnte nicht wirken, weil die
Diagnose falsch war. Sie schreiben, "das Armutsfallentheorem und die
Sichtweise des öffentlichen Diskurses" stimmten darin überein, dass Armut
ein Langzeitphänomen sei - einmal Sozialhilfe, immer Sozialhilfe. Diese
unzutreffende Annahme sei dadurch befördert worden, dass der Armutsforschung
lange Daten fehlten, die die Einkommensentwicklung personbezogen im Zeitverlauf
abbilden. Tatsächlich machten die Beobachtungen der Autoren und andere neuere
Studien aber deutlich, dass es bereits vor Hartz IV
dem überwiegenden Teil der Arbeitslosen- und Sozialhilfebezieher gelang, aus
der Arbeitslosigkeit herauszufinden. Daher stehe den durch die Reform
möglicherweise entstandenen sozialen Kosten - Zunahme sozialer Ungleichheit,
Ausbreitung prekärer Beschäftigung, Verletzung verbreiteter
Gerechtigkeitsvorstellungen - "kein Nutzen gegenüber", urteilen die
Forscher.