Immer mehr einfache Arbeiterfamilien drohen zu verarmen
Wirtschaftsforscher: Soziale Unterschiede werden größer /
Mittelschicht
kennt Not kaum aus eigenem Erleben
Armut hat sich in den vergangenen fünf Jahren in West- und
Ostdeutschland noch einmal deutlich verfestigt. Das Phänomen
konzentriert sich auf gering qualifizierte
Bevölkerungsgruppen.
Frankfurt a. M.· Die
Einkommensarmut ist in Deutschland zuletzt sechs
Jahre in Folge gestiegen, und zwar von zwölf Prozent im Jahr
1999 auf
über 17 Prozent im Jahr 2004. Die Situationen von Armut
halten zudem
länger an und sind zunehmend durch mehrfache Notlagen in
verschiedenen
Lebensbereichen (Wohnungsprobleme, Konsumdefizite,
Arbeitslosigkeit oder
fehlende Rücklagen) geprägt. Zu diesem Ergebnis kommt der aktuelle
Wochenbericht des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung (DIW)
anhand der zusammen mit Infratest erhobenen
Längsschnittstudie
Sozio-ökonomisches Panel (SOEP).
Hauptbetroffene sind demzufolge nach
wie vor Arbeiter, vor allem Arbeiterfamilien mit Migrationshintergrund
und mehreren Kindern.
Es sei aber nicht zu beobachten, schreiben die Experten,
dass sich die
Armut ausbreite. Es gehe zudem an der Realität vorbei, Armut
in
Deutschland als Problem einer kulturell verwahrlosten neuen
Unterschicht
zu deuten oder als kollektive Abstiegsbedrohung der gesamten
Gesellschaft zu dramatisieren.
In der Europäischen Union gilt als arm, wer über ein
bedarfsgewichtetes
Nettoeinkommen von weniger als 60 Prozent des
gesellschaftlichen
Durchschnitts verfügt. Ein beachtlicher Teil der
Bevölkerung, gut acht
Prozent, lebt in verfestigter Armut. Dieser Wert dürfte die
tatsächliche
Situation tendenziell noch unterschätzen, da bestimmte Personengruppen
wie Wohnungslose, illegalisierte Migranten
und viele Personen in Heimen
von Umfragen nicht erfasst werden.
"Es fragt sich, ob dieser Zustand mit dem
Selbstverständnis des
deutschen Sozialstaats in Einklang zu bringen ist",
meint das DIW. Armut
nehme zwar in allen Berufsgruppen tendenziell zu, eine
"soziale
Entgrenzung" der Armut lässt
sich jedoch nicht beobachten. Im Gegenteil,
der rapide Anstieg der Armutsquoten bei einfachen Arbeitern
deute eher
darauf hin, dass das Risiko, in eine verfestige Armutslage
zu geraten,
die sozialen Unterschiede noch weiter vertieft. Die Mitte
der
Gesellschaft kenne Armut nach wie vor kaum aus eigenem
Erleben.
Die Armut wächst quasi von unten nach oben, im Sinne einer
zunehmenden
Kumulation materieller Benachteiligungen bei einer
Bevölkerungsgruppe,
und nicht in Gestalt eines von der Mitte her immer mehr
bröckelnden
Wohlstands, urteilen die Wissenschaftler.
Eine Hauptursache für die Misere sieht das Institut im
deutschen
Bildungssystem. Die neueren Schulleistungsstudien
bestätigten nicht nur,
dass Arbeiterkinder aufgrund ihrer schlechteren
Startchancen, in ihrer
Leistungs- und Kompetenzentwicklung hinter den Kindern aus
höheren
gesellschaftlichen Schichten zurückstehen, heißt es im
aktuellen
Wochenbericht.
Und weiter: "Alarmierend ist vielmehr der Befund, dass
sie auch bei
gleichen geistigen und schulischen Kompetenzen deutlich
schlechter
abschneiden als Kinder aus privilegierteren
Elternhäusern." Roland
Bunzenthal
RBUNZENTHAL
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Ausgabe: Stadtausgabe (Nr. 69)
Datum: Donnerstag, den 22. März 2007
Seite: 6
Klagen auf hohem Niveau
In der Mittelschicht grassiert Zorn, weil gewohnte
Sicherheiten
bröckeln, doch eigentlich gehört sie zu den Gewinnern des
"großen
Schrumpfens" / Von Cordula Tutt
Das große
Schrumpfen
von Cordula Tutt;
272 Seiten;
Berlin Verlag; ISBN 978-3-8270-0722-3; Preis: 18 Euro;
erschienen
am 22. März 2007
Die Unsicherheit bei gut ausgebildeten Menschen mit einem
ausreichenden
Einkommen und Eigentum hat zugenommen, und doch hat die
Mittelschicht
gute Voraussetzungen, um auch künftig Wohlstand zu schaffen.
Nur ist
dieser Weg mittlerweile weniger planbar und er verlangt mehr
Flexibilität. Diese Menschen hätten objektiv keinen Grund
zur Klage,
ergeben regelmäßige Untersuchungen wie der Datenreport des
Statistischen
Bundesamtes oder das sogenannte
Sozioökonomische Panel (SOEP), das aus
umfangreichen repräsentativen Befragungen herausfiltert, wie
sich
Einkommensstruktur und Lebenslagen der Menschen wandeln.
Teilt man die
Bevölkerung danach in fünf gleich große Gruppen, so hat die
mittlere
Gruppe seit Jahren einen konstanten Anteil an den Einkommen
von knapp 20
Prozent, die obere Mittelschicht hat sogar leicht zugelegt.
Deshalb
sagen Forscher, sie fänden keine Zeichen für einen Abstieg
der
Mittelschicht oder ein steigendes Armutsrisiko in der
Gruppe.
Die oberen drei Fünftel der Bevölkerung dürften wohl auch
deshalb
überwiegend zu Gewinnern im Schrumpfen gehören, weil sie mit
einer guten
Qualifikation und der nötigen Flexibilität ihre Position am
Arbeitsmarkt
oder bei der Schaffung von Vermögen verbessern können.
Die Generation Praktikum
Wie weit der Blick von außen und die eigene Wahrnehmung der
"Mitte"
auseinandergehen können, lässt
sich zum Beispiel auf Partys junger
Akademiker erahnen. Plaudereien drehen sich oft darum, wie
sich die
"Generation Praktikum" durchschlägt -- von einer
unbezahlten
Schnupperstelle bei einer Werbeagentur zum
Drei-Monats-Vertrag bei einem
Musiklabel zur Hospitanz in einem
angesehenen Verlag. Die
hoffnungsvollen Absolventen sehen sich -- gut ausgebildet
und hoch
motiviert -- ungerecht behandelt von einer Gesellschaft, die
ihnen einen
schnellen Berufseinstieg verwehrt.
Dabei gibt es auch eine andere Sicht auf sie, die die
Gesellschaft doch
als Ideengeber, Innovationstreiber und frisch Qualifizierte
schätzen
sollte. Diese Sicht mag nicht alle Lebenslagen wiedergeben,
sie hat aber
durchaus ihre Berechtigung. Die Vertreter der
"Generation Praktikum"
gehören danach eben nicht zu den ungerecht Behandelten oder
zu jenen,
die inzwischen oft als "Prekariat",
als die neue Klasse der
"ungeschützten Arbeiter" und Opfer des
Schrumpfungsprozesses, bezeichnet
werden. Viele von ihnen verdecken mit Praktika und schlecht
bezahlter
Arbeit nicht drohende Arbeitslosigkeit, sondern überbrücken
mit
prestigeträchtigen Stationen im Lebenslauf eine Phase, die
sonst einen
Sachbearbeiterjob in der Verwaltung, eine Anstellung in
einem
Provinzverlag oder das Anheuern in einem Callcenter
bedeuten würde.
Prekär ist die Lage unter Umständen eher für junge Menschen,
die nicht
von den Eltern unterstützt und finanziert werden und deshalb
keine
Qualifizierungsschleifen drehen können. Sie müssen weniger
anspruchsvolle Einstiegsjobs ohne Prestige annehmen. Das
wissen auch die
Personalchefs und nutzen die jungen Hochgebildeten
entsprechend aus.
Sicher haben viele junge Akademiker dieser
"Generation" Angst vor
Arbeitslosigkeit und davor, künftig nicht mehr den
Lebensstandard ihrer
Eltern halten zu können. Viele profitieren aber gerade vom
Sicherheitsnetz, das der Wohlstand ihrer Eltern ihnen
verschafft. Mit
Eltern als Airbag und als Risikoversicherung, die weiter
monatlich aufs
Konto überweisen, oder Großeltern als Gönner, die übers
Studium hinaus
den Geldumschlag schicken, kann eine bildungsbewusste
Schicht beim
ersten Job wählerisch sein und gleichzeitig schon
schrittweise Zugriff
auf ein hohes Erbe bekommen, das vorher noch keine
Generation in diesem
Ausmaß erwarten durfte.
Wer in Westdeutschland aufgewachsen und Akademiker ist, hat
eine
ungleich höhere Chance, erklecklich zu erben als andere.
Freilich hat
das mit Chancengleichheit wenig zu tun. Die Situation zeigt
einmal mehr,
dass sich viele "Selbstverständlichkeiten" der
alten, auf Wachstum
ausgerichteten Gesellschaft in der Bundesrepublik nicht mehr
halten
lassen. Einheitliche Lebensläufe gibt es längst nicht mehr,
und das
abgesicherte Bürgertum, auf das unsere Gesellschaft so
fixiert war,
verliert an Einfluss. Das heißt aber nicht, dass es künftig
keine Mitte
mehr gibt und nun der Abstieg für viele beginnt. Die Mitte
mit
Mittelklasseauto und Sicherheit bis zum Ruhestand löst sich
auf. Viele
Jüngere werden diesem Modell aber wenig nachweinen, weil es
eine gewisse
Enge und klare Erwartungen der anderen mit sich bringt. Am liebsten
hätte man natürlich gerne beides, die Sicherheit von früher
und die
Freiheit von heute. Wir wollen keinen langweiligen Job, aber
dennoch
Sicherheit, wir wollen lebenslang angestellt, aber
unternehmerischen
Entscheidungen und Entlassungen nicht ausgesetzt sein. Wir
sind stolz
darauf, Exportweltmeister zu sein, mögen
aber den Rest der
Globalisierung nicht. Wir wollen Wohlstand haben, aber bitte
ohne Zutun
der Finanzmärkte. Wir wollen steigenden Wohlstand, aber
bitte ohne die
Unwägbarkeiten des Marktes. Die trügerische Verheißung der
alten
Bundesrepublik lautete, dass das eine zu erreichen ist, ohne
das andere
fürchten zu müssen.
Nach diesem Verständnis funktionierten bisher auch viele
staatliche
Leistungen -- sie waren angenehm, aber sozial nicht
unbedingt notwendig.
Das schaffte Wohlbefinden für viele in der Gesellschaft,
aber keine
Aufstiegschancen oder Chancengleichheit. Zu solchen
Leistungen, die in
die Mitte der Gesellschaft zielten,
gehören etwa Pendlerpauschale,
Eigenheimzulage oder Ehegattensplitting. Die Idee der
Lebensstandardsicherung durch den Sozialstaat ließ sich im
Wachstum
leidlich finanzieren, der Staat schaffte damit zugleich aber
eine
Situation, in der man sich dank staatlicher Leistungen auch
genügsam
einrichten konnte, statt ein selbst bestimmtes Leben zu
führen. Das ist
nicht nur ungerecht, sondern im Schrumpfen ein zusätzlicher
Nachteil für
eine Gesellschaft. Inzwischen wird deshalb über Armut anders
gesprochen.
Es geht nicht mehr um finanzielle Not, sondern eher um einen
Mangel an
Bildung, an positiven Vorbildern und an Antrieb, die eigene
Situation
verbessern zu wollen. Bei der sogenannten
neuen Unterschicht, jener
Gruppe, die Experten auf acht und zehn Prozent der
Erwachsenen schätzen,
glauben viele nicht mehr an einen Aufstieg oder einen
Ausstieg aus der
Arbeitslosigkeit. Ohne Regelmäßigkeit entfernen sich die
Menschen, die
sich selbst als abgehängt empfinden, vom Großteil der
Gesellschaft.
Geld auszuzahlen löst diese Probleme nicht. Auf die
Oberschicht warten
neue Pflichten gegenüber Schwächeren, auf die Mittelschicht
warten neue
Aufgaben fürs Gemeinwohl, und die Unterschicht braucht einen
neuen
Anlauf, sich zu beteiligen. Der Soziologe Heinz Bude
beschreibt die Lage
so: Inzwischen unterscheiden sich die Gruppen nicht nur von
den Werten
her, sondern auch dadurch, dass sie sich räumlich
voneinander getrennt
haben. Nicht Armut oder Reichtum bestimmen vorrangig die
Rolle in der
Gesellschaft, sondern die eigene Sicht, an dieser
Gesellschaft
teilzuhaben oder nicht. Einfacher formuliert heißt das, dass
der
Verteilungsstaat diejenigen, die aus der Gesellschaft
herausfallen, mit
Geld stillhält und sie entmündigt -- trotz bester Absichten.
Manches, was
in Deutschland zur Herstellung von Gleichheit gedacht war,
hat eher das
Gegenteil davon erreicht.
Kein knicken, lochen, heften
Die Vertreter der Mittelschicht haben in dieser Situation
ebenfalls neue
Pflichten -- und Freiheiten. Viele Jüngere wählen andere
Lebensentwürfe
als ihre Eltern, die bewusst weniger auf Sicherheit und
Angepasstheit
bauen. Haltung und Lebensstil sind ihnen wichtiger als Auto
und
Einfamilienhaus. Sie verzichten lieber auf einen finanziell
sicheren
Job, als das zu tun, was ihre Eltern womöglich jahrzehntelang
absolvierten und womit diese den Wohlstand einer Generation
begründeten.
Sie wollen nicht "knicken, lochen, heften", wie
das Klischee Beamten
oder Sacharbeitern unterstellt, oder ein Arbeitsleben lang
bei einem
Unternehmen in der gleichen Abteilung tätig sein. Diese selbstgewählte
Freiheit bedeutet größere Unsicherheit, ist aber als
Grundeinstellung
nicht schlecht, um mit den sich rasch ändernden Umständen
einer
schrumpfenden Gesellschaft zurechtzukommen. An einem Punkt
allerdings
halten viele Jüngere noch am Modell der Eltern fest. Sie
glauben ähnlich
wie ihre Eltern und im Gegensatz zu Männern und Frauen in
anderen
Ländern West- und Nordeuropas, dass erst Sicherheit im
Beruf, in einer
Beziehung und bei den eigenen Finanzen nötig ist, um Kinder
aufziehen zu
können. Und sie scheitern dann oft an eigenen hochgesteckten
Erwartungen...
Knappere Ressourcen als vorher lösen bei den Vertretern der
Mittelschicht zuerst einmal Zorn aus, dann folgt oft aber
ein
Kreativitätsschub und die Menschen erdenken Lösungen, die
gesellschaftlich wie betriebswirtschaftlich sinnvoll sein
können.
Höchste Zeit für die Politik, hier genauer hinzuschauen und
einiges zu
lernen. Mit einem solchen Einsatz für die Allgemeinheit lässt
sich
außerdem Zufriedenheit erreichen, die kein hoher Kontostand
herstellen
kann. In unserer Gesellschaft gibt es genug Zeit, Geld und
Ideen, die
sich auf diese Weise gewinnbringend einsetzen lassen.
MAUTH
© Copyright Frankfurter Rundschau
Ausgabe: Stadtausgabe (Nr. 70)
Datum: Freitag, den 23. März 2007
Seite: 7