Das Geschäft mit der Nächstenliebe
Die kirchlichen
Wohlfahrtsorganisationen sind längst Riesenunternehmen und der christliche
Anspruch nur Fassade / Von Carsten Frerk
Das „Religiöse“ sei wieder stark im
Kommen, liest man allerorten, und als die Bundesfamilienministerin van der
Leyen am 20. April in Berlin das „Bündnis für Erziehung“ vorstellte, wurde sie
dabei von einer evangelischen Bischöfin und einem katholischen Kardinal
sekundiert. Begründet wurde diese kirchliche Flankierung mit ihrem „dichten
bundesweiten Netz an Betreuungs- und Bildungseinrichtungen, (die) auch in
besonderer Weise soziale und moralische Aspekte (verknüpfen). Im Bereich der
Kindergärten in freier Trägerschaft stellen die kirchlichen Träger (Caritas und
Diakonie) insgesamt 72,3 Prozent der Plätze“, so die Ministerin.
Ein schönes Beispiel, wie man mit
richtigen Zahlen Nebelkerzen werfen kann. Es „fehlte“ zum einen die
Information, dass die freien Träger nur rund 60 Prozent aller Kita-Plätze
stellen, und zum anderen wur-den die „freien Träger“ auf die
Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege begrenzt, so dass die
richtige Information gewesen wäre: Die beiden kirchlichen Träger stellen
gemeinsam 37,5 Prozent aller Kita-Plätze in Deutschland. Also nur etwas mehr als
ein Drittel.
Dazu kommt dann noch durch die Auswahl
der Bündnispartner die unverhohlene Absage an ein grundgesetzkonformes
Erziehungsverständnis. Christliche Partikularwerte und Interessen werden gegen
die weltanschauliche Neutralität des Staates und die universalistischen
Grundwerte in Stellung gebracht.
Das breite Spektrum der Einrichtungen
in kirchlicher Trägerschaft (z. B. Kindergärten, Krankenhäuser, Altenheime,
Sozialstationen und Beratungsstellen) suggeriert einen hohen finanziellen
Mitteleinsatz der Kirchen. Die Behauptung der besonderen Verknüpfung von
sozialen und moralischen Aspekten unterstellt eine exklusive normative Qualität
gegenüber den nicht-konfessionellen Trägern. Ein Schelm, der Böses bei solchen
selbstlosen Unterstellungen denkt.
Doch wie ist es wirklich? Ist die
Betreuung in kirchlichen Pflegeheimen besonders gut? Fallen kirchliche
Einrichtungen durch besondere Berücksichtigung der Menschen- und Bürgerrechte
auf? Führt die christliche Nächstenliebe zu entsprechender Rücksichtnahme bei
den finanziellen, physischen und psychischen Belastungsgrenzen der
MitarbeiterInnen?
Vorurteile im Sozialbereich
Der Gesundheits- und Sozialbereich in
Deutschland scheint eine Art Terra incognita zu sein, in dem viele von uns zwar
einzelne Einrichtungen kennen, jedoch Ein- und Überblick nicht vorhanden sind.
Auf dem Boden dieser Unkenntnis können sich Stereotypen und Vorurteile
erhalten, die mit der heutigen Realität nur noch wenig zu tun haben.
1961 wurde in das Jugendhilfegesetz ein
kurzer Absatz eingefügt, der den so genannten „freien Trägern“ den Vorrang vor
den staatlichen Trägern einräumt. Dieses „Subsidiaritätsprinzip“ wurde
insbesondere von der organisierten katholischen „Nächstenliebe“ (Caritas) und
der evangelischen „Brüderlichkeit“ (Diakonie) genutzt, um zum größten privaten
Arbeitgeberverbund in Europa aufzusteigen.
1960 hatten Caritasverband und
Diakonisches Werk zusammen rund 300 000 MitarbeiterInnen. Die aktuellen Zahlen
belaufen sich auf zusammen rund 950 000 Beschäftigte. Dazu kommen noch rund 300
000 weitere Mitarbeiter als Azubis, Honorarkräfte, Freiwillige des Sozialen
Jahres etc., die von den Verbänden selber nicht als Beschäftigte gezählt
werden, da sie nicht hauptberuflich und unbefristet beschäftigt sind. Insgesamt
sind es also zurzeit rund 1, 25 Millionen Menschen, die Lohn und Arbeit bei
Caritas und Diakonie finden.
Bereits für die offiziellen
Mitarbeiterzahlen beider Wohltätigkeitsverbände gilt, dass jeder der beiden
Organisationen für sich mehr Menschen beschäftigt als der Siemens-Konzern (426
000) oder der Daimler-Chrysler-Konzern (366 000) weltweit. Mit anderen Worten:
Caritas und Diakonie sind unbekannte Giganten.
Diese schnelle Vergrößerung der
Mitarbeiterzahl hat die innere Struktur der Verbände und die Mentalität der
Mitarbeiter stark verändert. Aus einer geringen Zahl Hauptamtlicher, die von
vielen Ehrenamtlichen und Nonnen wie Diakonissen umgeben waren, sind nun
professionelle Dienste geworden, in die sich die Ehrenamtlichen nur noch
schwierig einbinden lassen. Nonnen wie Diakonissen gibt es zudem kaum noch. Wie
es einmal eine Nonne sagte: „Ja, wir gelten als katholische Einrichtung. Aber
wir merken nichts mehr davon.“ Oder, wie andere Stimmen sagen: „Wer bei der
Kirche arbeitet, fällt vom Glauben ab.“ Untersuchungen verdeutlichen: Schraubt
man das Schild am Eingang ab, wird inhaltlich nicht mehr deutlich, wer Träger
der Einrichtung ist.
Beide Organisationen setzen
mittlerweile ein Finanzvolumen von jährlich insgesamt rund 45 Milliarden Euro
um (z. B. Leistungsentgelte der Krankenkassen, der Pflegeversicherung oder
private Bezahlung). Die vielfältige Arbeit von Caritas und Diakonie kommt vor
allem dem Image der beiden Kirchen zugute: „Die tun doch so viel Gutes.“
Hinsichtlich der Finanzierung dieser
Einrichtungen darf die beständige Wiederholung: „Die Kirche ist der Träger von
Kindertagesstätten, Krankenhäusern, Altenheimen, etc.“ jedoch nicht täuschen,
da in wesentliche Bereiche überhaupt kein Cent Kirchengeld fließt und die
gesamten kirchlichen Zuschüsse für Caritas und Diakonie nur 1,8 Prozent von
deren Gesamtkosten abdecken.
Nur wenig Geld aus Kirchensteuer
Die Frage dieser geringen
Eigen-Finanzierung hat dabei zwei entscheidende Aspekte:
1. Die Glaubwürdigkeit des Trägers. Da
die meisten Menschen meinen, dass die Kirchen, wie sie es selber auch immer
darstellen, die sozialen Einrichtungen überwiegend aus der Kirchensteuer
finanzieren, würden (nach einer Umfrage der Forschungsgruppe Weltanschauungen
in Deutschland, www.fowid.de) rund die Hälfte der Kirchenmitglieder aus der Kirche
austreten, wenn die Kirchen diese Einrichtungen nur geringfügig finanzieren.
Genau das ist jedoch die Realität.
2. Die Rechtmäßigkeit eines
Besitzanspruchs. Artikel 140 des Grundgesetzes (in Verbindung mit Artikel 137,3
der Weimarer Reichsverfassung) privilegiert die Kirchen u. a. in der Weise,
dass sie ihre eigenen Einrichtungen selbstständig verwalten. Wenn also ein
Krankenhaus, oder ein Altenheim, oder eine Kindertageseinrichtung ohne einen
Cent aus der Kirchensteuer finanziert werden – ist es dann noch eine eigene
Einrichtung der Kirchen?
Die selbstständige Verwaltung der
sozialen Einrichtungen durch die Kirchen hat tagtägliche Bedeutung für viele
Menschen, weil in den konfessionellen Einrichtungen ein „Dritter Weg“ der
Mitarbeitervertretung gilt (kein Betriebsrat, kein Streikrecht, keine
Mitbestimmung oder Informationsrecht). Dadurch können grundlegende Bürgerrechte
den MitarbeiterInnen verweigert werden! Begründung: Dienstgeber und
Dienstnehmer sitzen im gleichen Boot der „Glaubensverkündigung“, das
(vorgeblich) keine Gegensätze kennt. Der rechtfertigende Rückgriff auf den
„Tendenzschutz“ im Betriebsverfassungsgesetz kann nicht greifen, weil dieses
Gesetz ausdrücklich keine Geltung für kirchliche Einrichtungen hat.
Während bei der Caritas schon seit Jahrzehnten
in den Klauseln der Arbeitsverträge unterschrieben wurden musste, dass man nach
den Regeln der katholischen Kirche leben würde – alles andere bedeutete
möglicherweise die fristlose Kündigung –, hatten es die evangelische Kirche und
die Diakonie erheblich schwerer. Das heißt, bisher hatten sie keinen Erfolg,
derartige „Loyalitätsrichtlinien“ für die MitarbeiterInnen in den Synoden
durchzusetzen.
Dafür wird jetzt Abhilfe geschaffen.
Das bereits von der rot-grünen Bundesregierung formulierte Antidiskriminierungsgesetz,
das dieser Tage vom Bundeskabinett verabschiedet wurde, gibt den Kirchen und
Weltanschauungsgemeinschaften das gesetzlich festgeschriebene Privileg, nach
ihren eigenen ethischen Lehren „Loyalitätsanforderungen“ zu formulieren, die nicht
als Diskriminierung gelten.
Das bedeutet für die vielen
MitarbeiterInnen beider Kirchen und bei Caritas wie Diakonie eine gesetzlich
erlaubte Beschränkung der individuellen Rechte der freien Religionsausübung,
der Berufswahl, der sexuellen Selbstbestimmung, der freien Partnerwahl und
Lebensform – also Diskriminierung auf Grund eines Bundesgesetzes, das
behauptet, gerade das verhindern zu wollen. Dies ist ein besonders fatales
Beispiel für den Abbau von Bürger- und Menschenrechten. In Deutschland. Aktuell.
MAUTH
© Copyright Frankfurter Rundschau
Ausgabe: Stadtausgabe (Nr. 126)
Datum: Donnerstag, den 01. Juni 2006
Seite: 9