Bundessozialrichter rügt Verschärfung von Hartz IV

Jurist äußert Zweifel an Zulässigkeit der Regeln für eheähnliche Gemeinschaft und Stiefeltern / Kritik an Umkehr der Beweislast

Die Verschärfungen im Hartz-IV-Gesetz

für eheähnliche Gemeinschaften und

Stiefeltern hat Bundessozialrichter Ulrich Wenner kritisiert. Die am 1. Juni vom

Bundestag beschlossenen Änderungen seien „verfassungsrechtlich problematisch“.

Köln · Ob eine eheähnliche Gemeinschaft vorliegt, mussten im Zweifel bisher die Ämter nachweisen. Erst danach durften sie etwa bei einer Empfängerin von Arbeitslosengeld (ALG) II das Einkommen und Vermögen des mit ihr zusammenlebenden Partners anrechnen. Nach einem neu im Gesetz eingefügten Absatz sollen künftig die Ämter stets „vermuten“, dass eine Eheähnlichkeit vorliegt, „wenn Partner 1. länger als ein Jahr zusammenleben, 2. mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben, 3. Kinder oder Angehörige im Haushalt versorgen oder 4. befugt sind, über Einkommen oder Vermögen des anderen zu verfügen“.

Die Betroffenen können diese Vermutung nach dem Gesetz, dem der Bundesrat noch zustimmen muss, widerlegen. Gelingt ihnen dies, gelten sie als alleinstehend – und nicht als Paar. Dafür müssen sie allerdings nachweisen, dass „alle“ vier genannten Kriterien „nicht erfüllt werden bzw. die Vermutung durch andere Umstände entkräftet wird“. Diese Beweislastumkehr ist nach Auffassung von Bundessozialrichter Wenner „vollständig verfehlt“. Beweisen könne man rechtlich immer nur Tatsachen und nicht den „Charakter“ einer Beziehung.

Selbst wenn zum Beispiel ein Mann und eine Frau länger als ein Jahr zusammenlebten, sei das noch kein ausreichendes Merkmal dafür, dass sie tatsächlich die für eine Ehe typische „Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft“ bilden, schreibt Wenner in der Zeitschrift Soziale Sicherheit. „Weil zwei Personen im Rechtssinne nicht beweisen können, dass sie einander nicht in einer eheähnlichen Partnerschaft verbunden sind, kann ihnen auch keine entsprechende Beweislast auferlegt werden“, meint Wenner.

Für verfassungsrechtlich nicht zulässig hält der Richter auch die jetzt beschlossene Versorgungspflicht von Stiefeltern beziehungsweise Stiefpartnern gegenüber den mit ihnen zusammenlebenden Kindern eines neuen Ehe- oder Lebenspartners, der ALG II bezieht. „Das bricht mit einer seit Jahrzehnten praktizierten Rechtslage“, schreibt Wenner. Im bisherigen Sozialhilfe-, Steuer- und Familienrecht würden Einkommen und Vermögen von Stiefelternteilen nicht zur Bedarfsdeckung von Stiefkindern herangezogen.

„Bruch mit praktiziertem Recht“

Nach einer Trennung von Eltern und der Bildung neuer Beziehungen gelte der rechtliche Grundsatz: „Als Paar trennen wir uns, Eltern bleiben wir gemeinsam.“ Wenn jetzt aber die Entscheidung für das Zusammenleben mit einem neuen Partner zur Folge habe, auch für dessen Kinder aus früheren Beziehungen – so wie für eigene Kinder – einstehen zu müssen, „wird die Bereitschaft, eine solche Partnerschaft einzugehen massiv beeinträchtigt“, schreibt der Bundessozialrichter. Das wäre mit der vom Grundgesetz gewährleisteten Freiheit zur Schließung einer Ehe oder Partnerschaft nicht vereinbar, meint Wenner. Hans Nakielski

 

NAKIELSKI

 

 

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Ausgabe: Stadtausgabe (Nr. 129)

Datum: Dienstag, den 06. Juni 2006

Seite: 4

 

SPD warnt Union vor Hartz-Blockade

Ministerpräsidenten von CDU und CSU fordern Korrekturen / Beck rüffelt Merkel

Trotz der Forderungen der SPD nach mehr Disziplin in der großen Koalition ist die geplante

Verabschiedung der Korrekturen an den Hartz IV-Reformen unsicher.

Berlin · Zwar signalisierten am Pfingstwochenende drei Ministerpräsidenten der Union, dass sie den Konflikt nicht auf die Spitze treiben wollen. Die Drohung mehrerer CDU-Länderregierungen, über den Bundesrat Widerstand zu mobilisieren, steht aber weiter im Raum.

Die SPD war derweil bemüht, den Unmut auf Seiten des Koalitionspartners einerseits als normale Reiberei herunterzuspielen, andererseits aber als mangelnde Respektierung bereits getroffener Abmachungen darzustellen. „Das ist keine Krise“, erklärte Arbeitsminister Franz Müntefering im ZDF. Er appellierte aber zugleich an die Verantwortung der Ministerpräsidenten der Union.

SPD-Chef Kurt Beck sprach von einem „Wetterleuchten“, das die Arbeitsatmosphäre auf Führungsebene nicht beeinträchtige. Es sei allerdings grundsätzlich die Aufgabe von Parteivorsitzenden, „dafür zu sorgen, dass Vereinbarungen eingehalten werden“, sagte er dem Tagesspiegel mit Blick auf CDU-Chefin Angela Merkel.

Bundesrat berät am 7. Juli

Laut Presseberichten erwägen sieben unionsregierte Länder, dem so genannten Fortentwicklungsgesetz nicht zuzustimmen, das die Voraussetzungen für den Bezug von Arbeitslosengeld II verschärft: Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Hamburg und das Saarland.

Bayerns CSU-Ministerpräsident Edmund Stoiber bekräftigte, dass er und seine Kollegen „eine grundlegende Überholung von Hartz IV“ für nötig halten. Er sehe aber „nicht das Problem, dass das Fortentwicklungsgesetz im Vermittlungsausschuss landet“, sagte Stoiber. CSU-Landesgruppenchef Peter Ramsauer bezeichnete hingegen eine Behandlung im Vermittlungsausschuss als akzeptabel, „wenn am Ende etwas noch Besseres herauskommt“. Zurückhaltend äußerten sich die CDU-Ministerpräsidenten von Sachsen und Thüringen, Georg Milbradt und Dieter Althaus. Der Bundesrat soll am 7. Juli beraten.

SPD-Chef Beck warnte vor der Verlagerung des Verfahrens in den Vermittlungsausschuss: „Es darf nicht zu parteipolitisch motivierten Verzögerungen oder gar Blockaden kommen.“ Die Bundesregierung verwies auf die 500 Millionen Euro Einsparungen, die das Gesetz 2006 auch zugunsten der Gemeindekassen ermögliche. Die Regierung rechne weiter mit dem Inkrafttreten am 1. August. Knut Pries

Kommentar Seite 3; Seite 4

 

RKPRIES

 

 

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Ausgabe: Stadtausgabe (Nr. 129)

Datum: Dienstag, den 06. Juni 2006

Seite: 1

 

Front der Unions-Länder gegen Hartz IV wächst

 

  Hartz-Sanktionen (Foto: dpa)

Berlin/Hamburg (dpa) - Die Front der unionsregierten Bundesländer gegen das

Korrekturgesetz zur Arbeitsmarktreform Hartz IV wächst. Den

Unions-Länderchefs reichen die Änderungen angesichts der steigenden Kosten

für Hartz IV nicht aus.

 

Wie die Zeitung "Bild am Sonntag" unter Berufung auf die Unionsführung

berichtet, wollen Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen,

Nordrhein-Westfalen, Hamburg und das Saarland das Gesetz im Bundesrat

ablehnen. Union und SPD hatten am Donnerstag im Bundestag unter anderem

beschlossen, dass hartnäckigen Arbeitsverweigerern die Unterstützung

gestrichen werden kann. Den Unions-Länderchefs reichen die Änderungen

angesichts der steigenden Kosten für Hartz IV aber nicht aus.

 

Der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) nannte

in der Zeitung die Bedingungen der unionsgeführten Bundesländer für eine

Zustimmung zu dem Hartz-IV-Fortentwicklungsgesetz. "Wir wollen drei Punkte

geklärt haben. Erstens: Der Missbrauch bei Hartz IV muss weiter eingedämmt

werden. Der Anteil des Bundes an den in den Kommunen entstandenen Kosten

bei der Neuregelung des Arbeitsmarktes muss geklärt werden. Zweitens: Wir

fordern eine anteilige Übernahme der Kosten der Landkreise durch den Bund.

Drittens: Wir wollen eine klare Regelung von Verantwortlichkeiten vor Ort."

Diese drei Punkte seien in den "nächsten Wochen regelungsbedürftig".

 

SPD-Generalsekretär Hubertus Heil warnte die Unions-Ministerpräsidenten

davor, Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in den Rücken zu fallen. Heil sagte

der "Bild am Sonntag": "Ich appelliere an die gemeinsame Verantwortung von

CDU, CSU und SPD. Diese Koalition ist ein Bündnis aus drei Parteien, nicht

nur aus zwei Bundestagsfraktionen."

 

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Dokument erstellt am 03.06.2006 um 10:34:27 Uhr

Erscheinungsdatum 04.06.2006