Armut wächst trotz Aufschwung

Bericht der Bundesregierung: Jeder vierte Deutsche betroffen / Minister Scholz: Einkünfte der Reichen gewachsen

Von Vera Gaserow

Berlin. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird in Deutschland trotz Aufschwung und sinkender Arbeitslosigkeit breiter. Jeder vierte Bundesbürger ist von Armut betroffen oder wird nur durch staatliche Hilfen vor dem Abrutschen unter die Armutsschwelle bewahrt.

Das geht aus dem dritten „Armuts- und Reichtumsbericht“ der Bundesregierung hervor, denBundesarbeitminister Olaf Scholz (SPD) heute vorlegen will. Der Bericht, der bisher unter Verschluss gehalten wird, stuft 13 Prozent der Deutschen als arm ein. Weitere 13 Prozent wären von Armut betroffen, wenn sie nicht staatliche Finanzspritzen wie Wohn- oder Kindergeld erhalten würden. „Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich weiter geöffnet“, bilanzierte Scholz. Die Einkünfte der Reichen seien gewachsen. Die Einkommen im unteren Bereich seien hingegen leicht gesunken und die im mittleren stagnierten.

Nach einer EU-Definition gelten diejenigen als arm, die weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung haben. Für Alleinlebende liege das Armutsrisiko daher bei einem Einkommen unter 781 Euro netto im Monat, sagte Scholz. Damit wäre allerdings die Schwelle, ab der jemand als arm gilt, in den letzten Jahren deutlich gesunken. Der letzte Armutsbericht setzte 2005 die Grenze zur Armut noch bei einem Einkommen von weniger als 938 Euro fest.

„Die aktuellen Zahlen zeigen die massive Erosion der mittleren und unteren Einkommen. Das sind die Früchte von Hartz IV, die nun voll durchschlagen“, kritisierte der Sozialexperte der Grünen, Markus Kurth. „Wenn man die alten Richtwerte zugrunde legen würde, läge die Armutsquote noch deutlich über 13 Prozent“, sagte Kurth der FR.

Auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hatte jüngst gewarnt, der Anteil derer, die weniger als die Hälfte des monatlichen Durchschnittseinkommens zur Verfügung hätten, sei in den vergangenen acht Jahren von elf auf 18,3 Prozent gewachsen. Die Zunahme der Armut in einem reichen Land wie Deutschland sei „erschütternd“, kommentierte DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach die vorab bekanntgewordenen Daten. Die Ursachen der „traurigen Entwicklung“ lägen vor allem in der Hartz IV-Reform und unzureichender Lohnentwicklung. Auch die Linkspartei machte die Agenda-Politik von Rot-Grün und Schwarz-Rot für die Kluft zwischen Arm und Reich verantwortlich. FDP-Generalsekretär Dirk Niebel forderte eine „deutliche Entlastung der kleinen und mittleren Einkommen“. Seite 11

GASEROW

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Ausgabe: Stadtausgabe (Nr. 115)
Datum: Montag, den 19. Mai 2008
Seite: 1

 

Kommentare

Arbeit schützt vor Armut nicht

Von Vera Gaserow

Bisher werden die Daten als geheime Verschlusssache gehandelt, die Arbeitsminister Olaf Scholz heute in seinem Armuts- und Reichtumsbericht präsentieren wird. Dabei ist der gesellschaftspolitische Skandal, der hinter den Zahlen steht, längst sicht- und fühlbares Allgemeingut: die Kluft zwischen Oben und Unten wird breiter. Und die da nach Unten abzurutschen drohen, werden nicht nur mehr. Sie sind anders. Anders zumindest, als man sich Arme bisher vorstellte. Das gibt dem Bericht, so erste veröffentliche Datentrends stimmen, seine Brisanz. Denn offenbar ist vor allem die Gruppe derer gewachsen, die am Monatsende die alarmierende Botschaft auf dem Gehaltsstreifen tragen: Arbeit schützt vor Armut nicht.

Dabei holpert der Begriff Armut in Deutschland. Hierzulande muss niemand hungern oder ohne ein Dach über dem Kopf leben. Armut auf dem europäischen Kontinent ist relativ. Sie ist keine Frage des Überlebens, sondern der gesellschaftlichen Teilhabe, der Zukunftschancen oder der Depression und der Angst vor allem der Mittelschicht vor Absturz. Krokodilstränen oder der Hinweis des Arbeitsministers, ohne die segensreichen Transferleistungen des Staates wäre sogar jeder vierte von Armut bedroht, sind da makabre Trostpflaster einer Politik, die kräftig mitgedreht hat an der sozialen Abwärtsspirale.

Schon jetzt ist klar, dass der Bericht Steilvorlage sein wird für politischen Disput: der SPD liefert er Munition für den Mindestlohn, der CSU für Steuersenkungen, dem DGB für höhere Hartz IV-Leistungen, der Linken für 50 Prozent „Reichensteuersatz“. Nur eine Politik, die den nächsten Armutsbericht anders aussehen lässt, ist daraus nicht zu erkennen.

 

GASEROW



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Ausgabe: Stadtausgabe (Nr. 115)
Datum: Montag, den 19. Mai 2008
Seite: 11

 

Jeder achte Deutsche

lebt in Armut


Berlin (RP) Die Kluft zwischen Arm und Reich hat sich in Deutschland weiter vertieft: Jeder achte Deutsche lebt dem neuen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zufolge mittlerweile in Armut. Ohne Sozialtransfers wie Arbeitslosengeld II, Wohn- oder Kindergeld wären statt 13 Prozent der Bevölkerung sogar 26 Prozent arm, sagte Bundessozialminister Olaf Scholz (SPD) der „Bild am Sonntag“. Der Armutsbericht der Bundesregierung soll heute vorgestellt werden.

Quelle:
Verlag: Rheinische Post Verlagsgesellschaft mbH
Publikation: Rheinische Post Düsseldorf
Ausgabe: Nr.115
Datum: Montag, den 19. Mai 2008
Seite: Nr.1

 

Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) stellt heute den Armuts- und Reichtumsbericht vor.

Als reich gilt , wer als Alleinlebender im Monat netto mehr als 3418 Euro zur Verfügung hat oder als Familie mit zwei Kindern mehr als 7178 Euro netto im Monat.

Arm ist, so definiert es die EU, wer als Alleinlebender weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verdient, also 781 Euro netto.

SPD: Mehr Lohn gegen Armut

Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) hat den neuen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zum Anlass genommen, höhere Löhne und insbesondere Mindestlöhne zu fordern.


Berlin (ddp) Jeder achte Bundesbürger lebt jüngsten Erhebungen zufolge in Armut. Das geht aus dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hervor, wie Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) der „Bild am Sonntag“ sagte. 13 Prozent der Menschen in Deutschland gelten demnach als arm, weitere 13 Prozent werden durch Sozialtransfers wie Kindergeld oder Arbeitslosengeld II vor dem Abrutschen in Armut bewahrt. Der Bericht soll heute in Berlin vorgestellt werden.


Insgesamt hat sich die soziale Kluft in Deutschland laut Scholz weiter vertieft. „Die Schere zwischen arm und reich hat sich weiter geöffnet“, betonte der Minister. „Die Einkünfte der Reichen sind gewachsen, dagegen sinken die Einkommen im unteren Bereich leicht, im mittleren stagnieren sie.“


Die Zahl der Wohnungslosen habe sich allerdings seit 1998 halbiert, betonte Scholz - „von 530000 auf 254000 Betroffene“. Auch die Altersarmut habe sich verringert: „Nur 2,3 Prozent von ihnen sind auf die Grundsicherung angewiesen, weil Rente und andere Einkünfte nicht reichen.“ Scholz räumte ein, es handle sich um statistische Werte. Viele der 13 Prozent statistisch Armen in Deutschland hätten noch immer mehr zum Leben als die Durchschnittsverdiener in vielen anderen Ländern. „Doch man vergleicht die eigene Situation mit der des Nachbarn“, sagte er. Es „tut weh“, wenn man sich und seinen Kindern nicht das ermöglichen könne, was man bei anderen sieht. „Das Schlimmste ist aber, wenn das Gefühl dazu kommt: Ich kann an meiner Lage nichts ändern, ich habe keine Chance, mein Leben zu verbessern.“ Nach Angaben des Sozialdemokraten liegt die „Armutsrisikoquote“ nach dieser Rechnung bei 13 Prozent der Gesamtbevölkerung. Besonders bedrückend bleibe für ihn, dass die Zahl derjenigen, die arbeiten und sich trotzdem im Armutsrisikobereich befinden, größer geworden sei. „Das zeigt: Wir haben zu niedrige Löhne in Deutschland, und wir brauchen Mindestlöhne“, hob Scholz hervor.


Vor allem von Armut betroffen sind dem Minister zufolge Langzeitarbeitslose sowie Alleinerziehende und deren Kinder. Bei berufstätigen Eltern sinke das Armutsrisiko auf nur noch vier Prozent der Haushalte mit Kindern. „Es ist also richtig, wenn wir es mit dem Ausbau der Kinderbetreuung den alleinerziehenden Eltern leichter machen, eine Arbeit aufzunehmen“, sagte Scholz.


Aus Sicht der Opposition trägt die Bundesregierung - und vor allem die SPD - eine Mitschuld an der wachsenden Armut. FDP-Generalsekretär Dirk Niebel sagte: „Olaf Scholz beklagt die Auswirkungen einer Politik, die er und seine SPD zu verantworten haben.“ In Wahrheit habe die Regierungsarbeit der SPD seit 1998 dazu geführt, dass die Mitte durch Steuer- und Abgabenerhöhungen finanziell immer stärker unter Druck geraten sei. Nach Meinung des Grünen-Sozialexperten Markus Kurth ist die im Zuge der „Hartz IV“-Reform abgeschaffte Zumutbarkeitsgrenze für die Aufnahme einer Beschäftigung eine der Hauptursachen für wachsende Armut. Dadurch seien Löhne ins Rutschen gekommen. Die Zahl der prekären Arbeitsverhältnisse habe zugenommen. Zugleich kritisierte Kurth das Messverfahren zur Erfassung der Kinderarmut als „nicht tauglich“. Er gehe davon aus, dass die Lage besonders der Kinder und Jugendlichen noch „weitaus dramatischer“ sei, als im Bericht erfasst. Linke-Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch monierte: „Hartz-IV-Repression, Druck auf die Löhne, Kinder als Armutsrisiko, Mehrwertsteuererhöhung und Rentenkürzung auf der einen Seite stehen Steuererleichterungen für Vermögende und Konzerne, maßlose Managergehälter, Renditejagd und Privatisierungswahn auf der anderen Seite gegenüber.“ Die Schere zwischen arm und reich öffne sich immer weiter, weil die Politik dies befördere.

Quelle:
Verlag: Rheinische Post Verlagsgesellschaft mbH
Publikation: Rheinische Post Düsseldorf
Ausgabe: Nr.115
Datum: Montag, den 19. Mai 2008
Seite: Nr.4

 

Vater Staat halbiert mit Hilfen die Zahl der Armen

Auf Transferleistungen sind vor allem Langzeitarbeitslose und Alleinerziehende angewiesen

Von Markus Sievers

Berlin. Die nackte Marktwirtschaft lässt jeden Vierten in Deutschland in Armut. Die soziale Marktwirtschaft halbiert diesen Kreis der Abgehängten. Dies ist die zentrale Botschaft aus dem Armuts- und Reichtumsbericht, dessen Entwurf Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) am Montag offiziell vorstellte.

Der Sozialstaat, obwohl stark umgebaut und entschlackt, funktioniert also. Durch seine Umverteilung, durch Hartz IV, Wohngeld, Grundsicherung, Kindergeld und die vielen anderen Leistungen sinkt das Armutsrisiko um die Hälfte.

Damit schneidet Deutschland nicht viel schlechter ab als die als Vorbild gehandelten skandinavischen Länder. In Schweden holt die staatliche Umverteilung 59 Prozent der Betroffenen aus der Armut, in Dänemark 57 Prozent und in Finnland 55 Prozent. Allerdings lassen diese Länder auch mehr Armut durch das freie Spiel des Marktes zu, also bevor der Staat eingreift. Dort wären ohne Sozialtransfers 28 bis 29 Prozent arm.

Fasst man beides zusammen und betrachtet die tatsächliche Lebenssituation, dann verschwinden die Unterschiede zwischen Deutschland und diesen skandinavischen Staaten fast völlig. Jeweils sind zwölf bis 13 Prozent der Menschen arm, wenn man sowohl die am Markt erzielten Einkommen als auch die öffentlichen Hilfen berücksichtigt.

Für die Bundesrepublik zeigt der Bericht die Probleme auf, die besonders häufig zu sozialen Notlagen führen. Langzeitarbeitslose zählen ebenso zur Risikogruppe wie Familien. Besonders für Alleinerziehende ist der Arbeitsmarkt oft versperrt, worunter sie und ihre Kinder leiden. Eine entscheidende Rolle spielt zudem die schulische und berufliche Qualifikation. Zwar ist laut der Regierungsanalyse das Bildungsniveau in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen, aber nicht bei allen Gruppen gleichermaßen.

 

So sei unter den 18- bis 24-Jährigen im Jahr 2006 in etwa so viele mit einer geringen formalen Qualifikation wie 1996. Und 13,8 Prozent verließen die Schule ohne Abschluss. Zwar steht Deutschland damit besser da als der EU-Durchschnitt von 15,3 Prozent. Die in der Europäischen Union (EU) vereinbarte Zielmarke von zehn Prozent im Jahr 2010 verfehlt es allerdings bislang deutlich. Scholz sieht damit die SPD-Forderung bestätigt, einen Rechtsanspruch auf einen Hauptschulabschluss zu verankern.

Geöffnet hat sich nach Darstellung des Ministeriums die Schere zwischen Arm und Reich. Die Bruttolöhne schrumpften den Angaben zufolge zwischen 2002 und 2005 um 4,7 Prozent auf durchschnittlich 23 684 Euro im Jahr. Auch sei die Ungleichverteilung in diesem Zeitraum gestiegen. Zugelegt hätten die oberen Einkommen, die niedrigen wären weiter abgerutscht. Dies erklären die Autoren des Berichtes vor allem mit der Erosion der Tariflandschaft, die den Druck auf die Löhne verstärkt habe. Als „besorgniserregend“ bezeichnen sie das Wuchern des Niedriglohnsektors. 2005 habe jeder dritte Beschäftigte die Niedriglohnschwelle unterschritten. Anfang der 90er Jahre sei dies nur bei jedem Vierten der Fall gewesen. „Entgegen dem europäischen Trend stieg damit auch die Armutsrisikoquote von Erwerbstätigen“, erklärt das Arbeitsministerium.

Allerdings eignet sich der Armuts- und Reichtsumsbericht nur bedingt, um sich ein Urteil über die langfristige Entwicklung zu bilden. Die Aussagefähigkeit krankt schon daran, dass für wesentliche Aussagen über Arm und Reich in Deutschland nur die Jahre 2004 und 2005 verglichen wurden. In diesem Zeitraum stieg der Anteil der Armen von zwölf auf 13 Prozent, die Gruppe der Reichen vergrößerte sich von fünf auf sechs Prozent. Offen bleibt bei dieser kurzfristigen Betrachtung, was durch die damals schwache Konjunktur bedingt war, was dauerhaft wirkt. Insbesondere ist auf dieser Basis keine Einschätzung möglich, ob der starke Aufschwung der vergangenen Jahre die Situation möglicherweise verbessert haben könnte.

Allerdings verweist die Studie auf die starken Beschäftigungsgewinne seit 2005. Davon profitierten sowohl Langzeitarbeitslose als auch junge, ältere und ausländische Menschen sowie Behinderte. Insbesondere sei die Langzeitarbeitslosigkeit innerhalb von zwei Jahren von drei Millionen auf 2,3 Millionen gesunken.

 

RSIEVERS

 

 

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Ausgabe: Stadtausgabe (Nr. 116)

Datum: Dienstag, den 20. Mai 2008

Seite: 3

 

21.05.2008 / Inland / Seite 4 jw

Lücken im Armutsbericht

Erfurt. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat die Auswahl der

Daten zum Armuts- und Reichtumsbericht kritisiert. Sein Institut habe für den

Regierungsbericht errechnet, daß die Armutsquote zwischen den Jahren 2000 und 2006

von 11,8 auf 18,3 Prozent angestiegen sei, sagte der DIW-Experte Markus Grabka der

Thüringer Allgemeinen (Dienstagausgabe). Diese Zahl erwähne Bundesarbeitsminister

Olaf Scholz (SPD) in seinen Eckpunkten nicht. Der von Scholz vorgelegte Entwurf sei

»eine zu kurz geratene Auswahl der Fakten«.(AFP/jW)

 

Pressemitteilung

Markus Kurth, sozialpolischer Sprecher

Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag

vom 19.05.2008

 

PRESSEMITTEILUNG

NR. 0514/2008

 

Datum: 19.05.2008

 

Regierung täuscht mit untauglichen Daten zum Armutsbericht

Tatsächliches Ausmaß der Armut größer als von Scholz angegeben

 

Anlässlich der von Bundesarbeitsminister Olaf Scholz vorab veröffentlichten

ersten Daten zum Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung erklärt

Markus Kurth, sozialpolitischer Sprecher:

 

Das wahre Ausmaß der Armut in Deutschland ist weitaus größer und

dramatischer

als von Minister Scholz angegeben. Das Bundesministerium für Arbeit und

Soziales nutzt eine Datengrundlage, die weder aktuell noch aussagekräftig

ist. Mit Zahlentricks wird die bedrückende Wirklichkeit verschleiert: Die

Armut in Deutschland hat stark zugenommen.

 

Die vom Arbeitsminister herangezogene Datenbasis des EU-SILC (EU Statistics

on Income and Living Conditions) beruht auf einer unzureichenden Datenbasis

und ist nicht vergleichbar mit den Zahlen der letzten beiden

Armutsberichte.

Würde man die bewährten und umfassenderen Daten des Sozioökonomischen

Panels

heranziehen, läge die Armutsquote 2006 bei 18,3 Prozent statt bei der von

Scholz veröffentlichen 13 Prozent für 2005.

 

Die Berechnungen der Regierung führen sogar dazu, dass die angegebene

Armutsschwelle für Familien noch unterhalb des durch Hartz IV-Leistungen

gewährten Existenzminimums liegt! Damit ist der vorliegende Armutsbericht

nicht mehr aussagekräftig. Der Bericht verkommt zum beliebigen politischen

Instrument zur Beschönigung der Lage und zur Rechtfertigung der

fortgesetzten

Untätigkeit der Regierung bei der Armutsbekämpfung. Scholz stellt damit

auch

den 1998 von Rot-Grün aufgestellten Konsens in Frage, die Entwicklung der

Einkommen offen zu legen und ein Handlungsinstrumentarium für die

Armutsbekämpfung zu schaffen. Die Bundesregierung fällt in die Zeiten der

Kohl-Regierung zurück, die die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich

unter den Teppich gekehrt hat.

 

Trotz der misslungenen Datenaufbereitung zeigt sich allerdings, dass die

Einkommen im unteren und mittleren Einkommenssegment dramatisch

eingebrochen

sind. Dadurch ist der zur Armutsmessung herangezogene Mittelwert der

Einkommen gesunken. Durch diesen statistischen Effekt sinkt nach der

Berechnung der Bundesregierung die absolute Armutsgrenze von 938 Euro auf

781

Euro für Alleinstehende, obwohl die Preise, insbesondere für Nahrungsmittel

und Energie in den letzten Jahren dramatisch gestiegen sind. Dies bedeutet

selbst bei Verwendung der Daten der Bundesregierung, dass die Armut in

Deutschland real erheblich zugenommen hat.

 

Im Falle von Rückfragen erreichen Sie mich unter 030 – 227 71970.

 

Markus Kurth, MdB

Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen

Dorotheenstr. 101

10117 Berlin

Tel. 030-227-71970

Fax 030-227-76966

www.markus-kurth.de

 

Verdeckte Armut

 

 

    Streit über den richtigen Maßstab im Berliner Bericht / Zahl der

    Hartz-IV-Bezieher steigt

 

 

        Von Roland Bunzenthal

 

 

        Wer ist arm im reichen Deutschland? Diese Frage wird in der

        Debatte über den Armutsbericht der Bundesregierung von

        Sozialforschern unterschiedlich beantwortet. Weil der Bericht

        die Erhebungsmethode gegenüber früheren Studien geändert hat,

        ist die Armutsgrenze von 980 auf 780 Euro monatlich nach unten

        gerutscht.

 

 

        Die vom Arbeitsminister herangezogene EU-Statistik beruht auf

        einer unzureichenden Datenbasis und ist nicht vergleichbar mit

        den Zahlen der letzten beiden Armutsberichte, kritisiert der

        grüne Bundestagsabgeordnete Markus Kurth. Würde man die

        umfassenderen Daten des Sozioökonomischen Panels heranziehen,

        läge die Armutsquote 2005 bei 18,3 Prozent statt bei den

        veröffentlichten 13 Prozent. Die Berechnungen der Regierung

        führen sogar dazu, dass die Armutsschwelle für Familien noch

        unter dem Existenzminimum (im Schnitt 814 Euro) liegt.

 

 

        Nach dem 2001 vereinbarten EU-Maßstab gilt als arm, wer in einem

        Haushalt lebt, dessen Nettoeinkommen bei weniger als 60 Prozent

        des Medians liegt. Auch andere Definitionen sind denkbar. So

        könnte die Armutsgrenze bei etwa 50 Prozent liegen. Und statt

        des Medians könnte auch das arithmetische Mittel herangezogen

        werden. Zur Ermittlung des Medians wird die Bevölkerung geteilt:

        Die eine Hälfte verdient mehr, die andere weniger als den so

        ermittelten Mittelwert. Der Bericht der Bundesregierung

        orientiert sich an der Höhe des Einkommens, vernachlässigt aber

        dabei die Größe der Familie, die davon leben muss.

 

 

        Aktueller ist die Zahl der Menschen, die Leistungen der

        Grundsicherung erhalten. Dazu gehören: 5,1 Millionen

        erwerbsfähige Hilfebedürftige und drei Millionen nicht

        erwerbsfähige (Kinder unter 15 Jahren, Sozialhilfeempfänger in

        Heimen, Asylbewerber und Empfänger von Grundsicherung im Alter).

        Dazu kommen die "verdeckten Armen", die einen Anspruch auf

        Leistung haben, ihn aber nicht wahrnehmen. Die Sozialforscher

        Richard Hauser und Irene Becker gehen davon aus, dass auf einen

        Leistungsbezieher fast noch einmal ein verdeckter Armer kommt.

 

 

        Hängt das Niveau der Armut ab von der Definition und angewandten

        Methode, zeigt der Trend doch die Richtung, in die sich eine

        Gesellschaft bewegt. Seit 2005, dem Erhebungsjahr des

        Armutsberichts und Start der Großen Koalition ist die Zahl der

        Hartz-IV-Empfänger um ein Fünftel gestiegen.

 

 

          RBUNZENTHAL

 

 

 

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Ausgabe: Stadtausgabe (Nr. 118)

Datum: Freitag, den 23. Mai 2008

Seite: 21

 

 

Die Armut von gestern

Wirtschaftsminister verwirft Bericht zur sozialen Lage aus dem Arbeitsministerium / Alte Daten als Grundlage

Von Michael Bergius

Berlin. Der von Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) kürzlich vorgelegte Armuts- und Reichtumsbericht trifft auf Vorbehalte. Nicht nur Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) wirft seinem Kabinettskollegen eine „tendenziöse“ und einseitige Beschreibung der sozialen Lage in Deutschland vor. Auch aus seiner eigenen Partei schlägt Scholz Kritik entgegen.

Im Kern lautet die Aussage der Mitte Mai präsentierten Bestandsaufnahme: Etwa 13 Prozent der Deutschen sind arm; es wären sogar 26 Prozent, wenn der Staat nicht über diverse Transferleistungen einspränge.

Dass es sich nur um einen vom Kabinett noch nicht abgenickten Entwurf handelte, hatte Scholz relativ diskret kommuniziert; umso klarer fiel dagegen sein Plädoyer aus, dass das Armutsproblem am besten durch die Einführung von Mindestlöhnen behoben werden könne.

Der Arbeitsminister sei vorgeprescht, und die Rohfassung entspreche „weder konzeptionell noch sprachlich den Anforderungen“ an einen Regierungsbericht, heißt es vernichtend in einer Stellungnahme des Glos-Ressorts, die der Frankfurter Rundschau vorliegt. Wer so argumentiere wie Scholz, leiste einer „Versorgungsmentalität“ Vorschub und schüre eine „Neiddebatte“.

Beim Thema Mindestlohn nehme das Arbeitsministerium eine Position ein, die nicht durch Koalitionsbeschlüsse gedeckt sei, rüffelt Glos. Formal kritisiert er schließlich, dass der Bericht nur die Entwicklung bis zum Jahr 2005 berücksichtige. Damit werde die seitdem eingetretene „überaus positive Arbeitsmarktentwicklung weitgehend ausgeblendet“.

Was den letzten Kritikpunkt betrifft, steht Glos nicht allein. Die Datenlage sei „politisch problematisch“, sagte der SPD-Wirtschaftsexperte Rainer Wend der FR. „Der Bericht bildet die heutige Wirklichkeit falsch ab, er suggeriert eine Situation, die objektiv nicht da ist.“

Wend fordert daher: „Wir müssen bei diesem Bericht entweder zeitnäher werden oder – wenn das nicht geht – zumindest deutlicher einordnen, welche Wirklichkeit beschrieben wird.“ Was die „Struktur“ des Berichts und die Aussagen zum Thema Mindestlohn betreffe, hat Wend kein Problem.

Eine Sprecherin von Scholz zeigte sich am Montag wenig beeindruckt von den kabinettsinternen Sticheleien. Es sei üblich, dass Ressortberichte mit Kommentaren von anderen Ministerien versehen würden. Man werde die Anregungen „einarbeiten“, ließ Scholz wissen; „am Ende“ jedoch werde sich der eigene Entwurf wohl „weitestgehend“ durchsetzen.

 

RBERGIUS



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Ausgabe: Stadtausgabe (Nr. 127)
Datum: Dienstag, den 03. Juni 2008
Seite: 4