Armut wächst trotz Aufschwung
Bericht der Bundesregierung:
Jeder vierte Deutsche betroffen / Minister Scholz: Einkünfte der Reichen
gewachsen
Von Vera Gaserow
Berlin. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird in
Deutschland trotz Aufschwung und sinkender Arbeitslosigkeit breiter. Jeder
vierte Bundesbürger ist von Armut betroffen oder wird nur durch staatliche
Hilfen vor dem Abrutschen unter die Armutsschwelle bewahrt.
Das geht aus dem dritten „Armuts- und
Reichtumsbericht“ der Bundesregierung hervor, denBundesarbeitminister Olaf
Scholz (SPD) heute vorlegen will. Der Bericht, der bisher unter Verschluss
gehalten wird, stuft 13 Prozent der Deutschen als arm ein. Weitere 13 Prozent
wären von Armut betroffen, wenn sie nicht staatliche Finanzspritzen wie Wohn-
oder Kindergeld erhalten würden. „Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich
weiter geöffnet“, bilanzierte Scholz. Die Einkünfte der Reichen seien
gewachsen. Die Einkommen im unteren Bereich seien hingegen leicht gesunken und
die im mittleren stagnierten.
Nach einer EU-Definition gelten diejenigen als arm,
die weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung haben. Für
Alleinlebende liege das Armutsrisiko daher bei einem Einkommen unter 781 Euro
netto im Monat, sagte Scholz. Damit wäre allerdings die Schwelle, ab der jemand
als arm gilt, in den letzten Jahren deutlich gesunken. Der letzte Armutsbericht
setzte 2005 die Grenze zur Armut noch bei einem Einkommen von weniger als 938
Euro fest.
„Die aktuellen Zahlen zeigen die massive Erosion der
mittleren und unteren Einkommen. Das sind die Früchte von Hartz IV, die nun
voll durchschlagen“, kritisierte der Sozialexperte der Grünen, Markus Kurth.
„Wenn man die alten Richtwerte zugrunde legen würde, läge die Armutsquote noch
deutlich über 13 Prozent“, sagte Kurth der FR.
Auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung
hatte jüngst gewarnt, der Anteil derer, die weniger als die Hälfte des
monatlichen Durchschnittseinkommens zur Verfügung hätten, sei in den
vergangenen acht Jahren von elf auf 18,3 Prozent gewachsen. Die Zunahme der
Armut in einem reichen Land wie Deutschland sei „erschütternd“, kommentierte
DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach die vorab bekanntgewordenen Daten. Die
Ursachen der „traurigen Entwicklung“ lägen vor allem in der Hartz IV-Reform und
unzureichender Lohnentwicklung. Auch die Linkspartei machte die Agenda-Politik
von Rot-Grün und Schwarz-Rot für die Kluft zwischen Arm und Reich
verantwortlich. FDP-Generalsekretär Dirk Niebel forderte eine „deutliche
Entlastung der kleinen und mittleren Einkommen“. Seite 11
GASEROW
© Copyright Frankfurter Rundschau
Ausgabe: Stadtausgabe (Nr. 115)
Datum: Montag, den 19. Mai 2008
Seite: 1
Kommentare
Arbeit
schützt vor Armut nicht
Von Vera
Gaserow
Bisher werden die Daten als geheime Verschlusssache
gehandelt, die Arbeitsminister Olaf Scholz heute in seinem Armuts- und
Reichtumsbericht präsentieren wird. Dabei ist der gesellschaftspolitische
Skandal, der hinter den Zahlen steht, längst sicht- und fühlbares Allgemeingut:
die Kluft zwischen Oben und Unten wird breiter. Und die da nach Unten
abzurutschen drohen, werden nicht nur mehr. Sie sind anders. Anders zumindest,
als man sich Arme bisher vorstellte. Das gibt dem Bericht, so erste
veröffentliche Datentrends stimmen, seine Brisanz. Denn offenbar ist vor allem
die Gruppe derer gewachsen, die am Monatsende die alarmierende Botschaft auf
dem Gehaltsstreifen tragen: Arbeit schützt vor Armut nicht.
Dabei holpert der Begriff Armut in
Deutschland. Hierzulande muss niemand hungern oder ohne ein Dach über dem Kopf
leben. Armut auf dem europäischen Kontinent ist relativ. Sie ist keine Frage
des Überlebens, sondern der gesellschaftlichen Teilhabe, der Zukunftschancen
oder der Depression und der Angst vor allem der Mittelschicht vor Absturz.
Krokodilstränen oder der Hinweis des Arbeitsministers, ohne die segensreichen
Transferleistungen des Staates wäre sogar jeder vierte von Armut bedroht, sind
da makabre Trostpflaster einer Politik, die kräftig mitgedreht hat an der
sozialen Abwärtsspirale.
Schon jetzt ist klar, dass der Bericht
Steilvorlage sein wird für politischen Disput: der SPD liefert er Munition für
den Mindestlohn, der CSU für Steuersenkungen, dem DGB für höhere Hartz
IV-Leistungen, der Linken für 50 Prozent „Reichensteuersatz“. Nur eine Politik,
die den nächsten Armutsbericht anders aussehen lässt, ist daraus nicht zu
erkennen.
GASEROW
© Copyright Frankfurter Rundschau
Ausgabe: Stadtausgabe (Nr. 115)
Datum: Montag, den 19. Mai 2008
Seite: 11
Jeder
achte Deutsche
lebt in Armut
Berlin (RP) Die Kluft zwischen Arm und Reich hat sich in Deutschland weiter
vertieft: Jeder achte Deutsche lebt dem neuen Armuts- und Reichtumsbericht der
Bundesregierung zufolge mittlerweile in Armut. Ohne Sozialtransfers wie
Arbeitslosengeld II, Wohn- oder Kindergeld wären statt 13 Prozent der
Bevölkerung sogar 26 Prozent arm, sagte Bundessozialminister Olaf Scholz (SPD)
der „Bild am Sonntag“. Der Armutsbericht der Bundesregierung soll heute
vorgestellt werden.
Quelle:
Verlag: Rheinische Post Verlagsgesellschaft mbH
Publikation: Rheinische Post Düsseldorf
Ausgabe: Nr.115
Datum: Montag, den 19. Mai 2008
Seite: Nr.1
Bundesarbeitsminister
Olaf Scholz (SPD) stellt heute den Armuts- und Reichtumsbericht vor.
Als reich gilt , wer als Alleinlebender im Monat
netto mehr als 3418 Euro zur Verfügung hat oder als Familie mit zwei Kindern
mehr als 7178 Euro netto im Monat.
Arm ist, so definiert es die EU, wer als
Alleinlebender weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verdient, also
781 Euro netto.
SPD:
Mehr Lohn gegen Armut
Bundesarbeitsminister Olaf Scholz
(SPD) hat den neuen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zum Anlass
genommen, höhere Löhne und insbesondere Mindestlöhne zu fordern.
Berlin (ddp) Jeder achte Bundesbürger lebt jüngsten Erhebungen zufolge in
Armut. Das geht aus dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung
hervor, wie Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) der „Bild am Sonntag“
sagte. 13 Prozent der Menschen in Deutschland gelten demnach als arm, weitere
13 Prozent werden durch Sozialtransfers wie Kindergeld oder Arbeitslosengeld II
vor dem Abrutschen in Armut bewahrt. Der Bericht soll heute in Berlin
vorgestellt werden.
Insgesamt hat sich die soziale Kluft in Deutschland laut Scholz weiter
vertieft. „Die Schere zwischen arm und reich hat sich weiter geöffnet“, betonte
der Minister. „Die Einkünfte der Reichen sind gewachsen, dagegen sinken die
Einkommen im unteren Bereich leicht, im mittleren stagnieren sie.“
Die Zahl der Wohnungslosen habe sich allerdings seit 1998 halbiert, betonte
Scholz - „von 530000 auf 254000 Betroffene“. Auch die Altersarmut habe sich
verringert: „Nur 2,3 Prozent von ihnen sind auf die Grundsicherung angewiesen,
weil Rente und andere Einkünfte nicht reichen.“ Scholz räumte ein, es handle
sich um statistische Werte. Viele der 13 Prozent statistisch Armen in
Deutschland hätten noch immer mehr zum Leben als die Durchschnittsverdiener in
vielen anderen Ländern. „Doch man vergleicht die eigene Situation mit der des
Nachbarn“, sagte er. Es „tut weh“, wenn man sich und seinen Kindern nicht das
ermöglichen könne, was man bei anderen sieht. „Das Schlimmste ist aber, wenn
das Gefühl dazu kommt: Ich kann an meiner Lage nichts ändern, ich habe keine
Chance, mein Leben zu verbessern.“ Nach Angaben des Sozialdemokraten liegt die
„Armutsrisikoquote“ nach dieser Rechnung bei 13 Prozent der Gesamtbevölkerung.
Besonders bedrückend bleibe für ihn, dass die Zahl derjenigen, die arbeiten und
sich trotzdem im Armutsrisikobereich befinden, größer geworden sei. „Das zeigt:
Wir haben zu niedrige Löhne in Deutschland, und wir brauchen Mindestlöhne“, hob
Scholz hervor.
Vor allem von Armut betroffen sind dem Minister zufolge Langzeitarbeitslose
sowie Alleinerziehende und deren Kinder. Bei berufstätigen Eltern sinke das
Armutsrisiko auf nur noch vier Prozent der Haushalte mit Kindern. „Es ist also
richtig, wenn wir es mit dem Ausbau der Kinderbetreuung den alleinerziehenden
Eltern leichter machen, eine Arbeit aufzunehmen“, sagte Scholz.
Aus Sicht der Opposition trägt die Bundesregierung - und vor allem die SPD -
eine Mitschuld an der wachsenden Armut. FDP-Generalsekretär Dirk Niebel sagte:
„Olaf Scholz beklagt die Auswirkungen einer Politik, die er und seine SPD zu
verantworten haben.“ In Wahrheit habe die Regierungsarbeit der SPD seit 1998
dazu geführt, dass die Mitte durch Steuer- und Abgabenerhöhungen finanziell
immer stärker unter Druck geraten sei. Nach Meinung des Grünen-Sozialexperten
Markus Kurth ist die im Zuge der „Hartz IV“-Reform abgeschaffte
Zumutbarkeitsgrenze für die Aufnahme einer Beschäftigung eine der Hauptursachen
für wachsende Armut. Dadurch seien Löhne ins Rutschen gekommen. Die Zahl der
prekären Arbeitsverhältnisse habe zugenommen. Zugleich kritisierte Kurth das
Messverfahren zur Erfassung der Kinderarmut als „nicht tauglich“. Er gehe davon
aus, dass die Lage besonders der Kinder und Jugendlichen noch „weitaus
dramatischer“ sei, als im Bericht erfasst. Linke-Bundesgeschäftsführer Dietmar
Bartsch monierte: „Hartz-IV-Repression, Druck auf die Löhne, Kinder als Armutsrisiko,
Mehrwertsteuererhöhung und Rentenkürzung auf der einen Seite stehen
Steuererleichterungen für Vermögende und Konzerne, maßlose Managergehälter,
Renditejagd und Privatisierungswahn auf der anderen Seite gegenüber.“ Die
Schere zwischen arm und reich öffne sich immer weiter, weil die Politik dies
befördere.
Quelle:
Verlag: Rheinische Post Verlagsgesellschaft mbH
Publikation: Rheinische Post Düsseldorf
Ausgabe: Nr.115
Datum: Montag, den 19. Mai 2008
Seite: Nr.4
Vater Staat halbiert mit Hilfen die Zahl der Armen
Auf Transferleistungen sind vor allem Langzeitarbeitslose
und Alleinerziehende angewiesen
Von Markus Sievers
Berlin. Die nackte Marktwirtschaft lässt jeden Vierten in
Deutschland in Armut. Die soziale Marktwirtschaft halbiert diesen Kreis der
Abgehängten. Dies ist die zentrale Botschaft aus dem Armuts- und
Reichtumsbericht, dessen Entwurf Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) am Montag
offiziell vorstellte.
Der Sozialstaat, obwohl stark umgebaut und entschlackt,
funktioniert also. Durch seine Umverteilung, durch Hartz IV, Wohngeld,
Grundsicherung, Kindergeld und die vielen anderen Leistungen sinkt das
Armutsrisiko um die Hälfte.
Damit schneidet Deutschland nicht viel schlechter ab als die
als Vorbild gehandelten skandinavischen Länder. In Schweden holt die staatliche
Umverteilung 59 Prozent der Betroffenen aus der Armut, in Dänemark 57 Prozent
und in Finnland 55 Prozent. Allerdings lassen diese Länder auch mehr Armut
durch das freie Spiel des Marktes zu, also bevor der Staat eingreift. Dort
wären ohne Sozialtransfers 28 bis 29 Prozent arm.
Fasst man beides zusammen und betrachtet die tatsächliche
Lebenssituation, dann verschwinden die Unterschiede zwischen Deutschland und
diesen skandinavischen Staaten fast völlig. Jeweils sind zwölf bis 13 Prozent
der Menschen arm, wenn man sowohl die am Markt erzielten Einkommen als auch die
öffentlichen Hilfen berücksichtigt.
Für die Bundesrepublik zeigt der Bericht die Probleme auf,
die besonders häufig zu sozialen Notlagen führen. Langzeitarbeitslose zählen
ebenso zur Risikogruppe wie Familien. Besonders für Alleinerziehende ist der
Arbeitsmarkt oft versperrt, worunter sie und ihre Kinder leiden. Eine
entscheidende Rolle spielt zudem die schulische und berufliche Qualifikation.
Zwar ist laut der Regierungsanalyse das Bildungsniveau in den vergangenen
Jahren kontinuierlich gestiegen, aber nicht bei allen Gruppen gleichermaßen.
So sei unter den 18- bis 24-Jährigen im Jahr 2006 in etwa so
viele mit einer geringen formalen Qualifikation wie 1996. Und 13,8 Prozent
verließen die Schule ohne Abschluss. Zwar steht Deutschland damit besser da als
der EU-Durchschnitt von 15,3 Prozent. Die in der Europäischen Union (EU)
vereinbarte Zielmarke von zehn Prozent im Jahr 2010 verfehlt es allerdings
bislang deutlich. Scholz sieht damit die SPD-Forderung bestätigt, einen
Rechtsanspruch auf einen Hauptschulabschluss zu verankern.
Geöffnet hat sich nach Darstellung des Ministeriums die
Schere zwischen Arm und Reich. Die Bruttolöhne schrumpften den Angaben zufolge
zwischen 2002 und 2005 um 4,7 Prozent auf durchschnittlich 23 684 Euro im Jahr.
Auch sei die Ungleichverteilung in diesem Zeitraum gestiegen. Zugelegt hätten
die oberen Einkommen, die niedrigen wären weiter abgerutscht. Dies erklären die
Autoren des Berichtes vor allem mit der Erosion der Tariflandschaft, die den
Druck auf die Löhne verstärkt habe. Als „besorgniserregend“ bezeichnen sie das
Wuchern des Niedriglohnsektors. 2005 habe jeder dritte Beschäftigte die
Niedriglohnschwelle unterschritten. Anfang der 90er Jahre sei dies nur bei
jedem Vierten der Fall gewesen. „Entgegen dem europäischen Trend stieg damit
auch die Armutsrisikoquote von Erwerbstätigen“, erklärt das Arbeitsministerium.
Allerdings eignet sich der Armuts- und Reichtsumsbericht nur
bedingt, um sich ein Urteil über die langfristige Entwicklung zu bilden. Die
Aussagefähigkeit krankt schon daran, dass für wesentliche Aussagen über Arm und
Reich in Deutschland nur die Jahre 2004 und 2005 verglichen wurden. In diesem
Zeitraum stieg der Anteil der Armen von zwölf auf 13 Prozent, die Gruppe der
Reichen vergrößerte sich von fünf auf sechs Prozent. Offen bleibt bei dieser
kurzfristigen Betrachtung, was durch die damals schwache Konjunktur bedingt
war, was dauerhaft wirkt. Insbesondere ist auf dieser Basis keine Einschätzung
möglich, ob der starke Aufschwung der vergangenen Jahre die Situation
möglicherweise verbessert haben könnte.
Allerdings verweist die Studie auf die starken
Beschäftigungsgewinne seit 2005. Davon profitierten sowohl Langzeitarbeitslose
als auch junge, ältere und ausländische Menschen sowie Behinderte. Insbesondere
sei die Langzeitarbeitslosigkeit innerhalb von zwei Jahren von drei Millionen
auf 2,3 Millionen gesunken.
RSIEVERS
© Copyright Frankfurter Rundschau
Ausgabe: Stadtausgabe (Nr. 116)
Datum: Dienstag, den 20. Mai 2008
Seite: 3
21.05.2008 / Inland / Seite 4 jw
Lücken im Armutsbericht
Erfurt. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)
hat die Auswahl der
Daten zum Armuts- und Reichtumsbericht kritisiert. Sein
Institut habe für den
Regierungsbericht errechnet, daß die Armutsquote zwischen
den Jahren 2000 und 2006
von 11,8 auf 18,3 Prozent angestiegen sei, sagte der
DIW-Experte Markus Grabka der
Thüringer Allgemeinen (Dienstagausgabe). Diese Zahl erwähne
Bundesarbeitsminister
Olaf Scholz (SPD) in seinen Eckpunkten nicht. Der von Scholz
vorgelegte Entwurf sei
»eine zu kurz geratene Auswahl der Fakten«.(AFP/jW)
Pressemitteilung
Markus Kurth,
sozialpolischer Sprecher
Bündnis 90/Die
Grünen im Bundestag
vom 19.05.2008
PRESSEMITTEILUNG
NR. 0514/2008
Datum:
19.05.2008
Regierung
täuscht mit untauglichen Daten zum Armutsbericht
Tatsächliches
Ausmaß der Armut größer als von Scholz angegeben
Anlässlich der
von Bundesarbeitsminister Olaf Scholz vorab veröffentlichten
ersten Daten zum
Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung erklärt
Markus Kurth,
sozialpolitischer Sprecher:
Das wahre Ausmaß
der Armut in Deutschland ist weitaus größer und
dramatischer
als von Minister
Scholz angegeben. Das Bundesministerium für Arbeit und
Soziales nutzt
eine Datengrundlage, die weder aktuell noch aussagekräftig
ist. Mit
Zahlentricks wird die bedrückende Wirklichkeit verschleiert: Die
Armut in
Deutschland hat stark zugenommen.
Die vom
Arbeitsminister herangezogene Datenbasis des EU-SILC (EU Statistics
on Income and
Living Conditions) beruht auf einer unzureichenden Datenbasis
und ist nicht
vergleichbar mit den Zahlen der letzten beiden
Armutsberichte.
Würde man die
bewährten und umfassenderen Daten des Sozioökonomischen
Panels
heranziehen,
läge die Armutsquote 2006 bei 18,3 Prozent statt bei der von
Scholz
veröffentlichen 13 Prozent für 2005.
Die Berechnungen
der Regierung führen sogar dazu, dass die angegebene
Armutsschwelle
für Familien noch unterhalb des durch Hartz IV-Leistungen
gewährten
Existenzminimums liegt! Damit ist der vorliegende Armutsbericht
nicht mehr
aussagekräftig. Der Bericht verkommt zum beliebigen politischen
Instrument zur
Beschönigung der Lage und zur Rechtfertigung der
fortgesetzten
Untätigkeit der Regierung
bei der Armutsbekämpfung. Scholz stellt damit
auch
den 1998 von
Rot-Grün aufgestellten Konsens in Frage, die Entwicklung der
Einkommen offen
zu legen und ein Handlungsinstrumentarium für die
Armutsbekämpfung
zu schaffen. Die Bundesregierung fällt in die Zeiten der
Kohl-Regierung
zurück, die die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich
unter den
Teppich gekehrt hat.
Trotz der
misslungenen Datenaufbereitung zeigt sich allerdings, dass die
Einkommen im
unteren und mittleren Einkommenssegment dramatisch
eingebrochen
sind. Dadurch
ist der zur Armutsmessung herangezogene Mittelwert der
Einkommen
gesunken. Durch diesen statistischen Effekt sinkt nach der
Berechnung der
Bundesregierung die absolute Armutsgrenze von 938 Euro auf
781
Euro für
Alleinstehende, obwohl die Preise, insbesondere für Nahrungsmittel
und Energie in
den letzten Jahren dramatisch gestiegen sind. Dies bedeutet
selbst bei
Verwendung der Daten der Bundesregierung, dass die Armut in
Deutschland real
erheblich zugenommen hat.
Im Falle von
Rückfragen erreichen Sie mich unter 030 – 227 71970.
Markus Kurth,
MdB
Bundestagsfraktion
Bündnis 90/Die Grünen
Dorotheenstr.
101
10117 Berlin
Tel.
030-227-71970
Fax
030-227-76966
Verdeckte Armut
Streit über den
richtigen Maßstab im Berliner Bericht / Zahl der
Hartz-IV-Bezieher
steigt
Von Roland
Bunzenthal
Wer ist arm im
reichen Deutschland? Diese Frage wird in der
Debatte über
den Armutsbericht der Bundesregierung von
Sozialforschern unterschiedlich beantwortet. Weil der Bericht
die
Erhebungsmethode gegenüber früheren Studien geändert hat,
ist die
Armutsgrenze von 980 auf 780 Euro monatlich nach unten
gerutscht.
Die vom
Arbeitsminister herangezogene EU-Statistik beruht auf
einer
unzureichenden Datenbasis und ist nicht vergleichbar mit
den Zahlen der
letzten beiden Armutsberichte, kritisiert der
grüne
Bundestagsabgeordnete Markus Kurth. Würde man die
umfassenderen
Daten des Sozioökonomischen Panels heranziehen,
läge die
Armutsquote 2005 bei 18,3 Prozent statt bei den
veröffentlichten 13 Prozent. Die Berechnungen der Regierung
führen sogar dazu,
dass die Armutsschwelle für Familien noch
unter dem
Existenzminimum (im Schnitt 814 Euro) liegt.
Nach dem 2001
vereinbarten EU-Maßstab gilt als arm, wer in einem
Haushalt lebt,
dessen Nettoeinkommen bei weniger als 60 Prozent
des Medians
liegt. Auch andere Definitionen sind denkbar. So
könnte die
Armutsgrenze bei etwa 50 Prozent liegen. Und statt
des Medians
könnte auch das arithmetische Mittel herangezogen
werden. Zur
Ermittlung des Medians wird die Bevölkerung geteilt:
Die eine
Hälfte verdient mehr, die andere weniger als den so
ermittelten
Mittelwert. Der Bericht der Bundesregierung
orientiert
sich an der Höhe des Einkommens, vernachlässigt aber
dabei die
Größe der Familie, die davon leben muss.
Aktueller ist
die Zahl der Menschen, die Leistungen der
Grundsicherung
erhalten. Dazu gehören: 5,1 Millionen
erwerbsfähige
Hilfebedürftige und drei Millionen nicht
erwerbsfähige (Kinder
unter 15 Jahren, Sozialhilfeempfänger in
Heimen,
Asylbewerber und Empfänger von Grundsicherung im Alter).
Dazu kommen
die "verdeckten Armen", die einen Anspruch auf
Leistung
haben, ihn aber nicht wahrnehmen. Die Sozialforscher
Richard Hauser
und Irene Becker gehen davon aus, dass auf einen
Leistungsbezieher fast noch einmal ein verdeckter Armer kommt.
Hängt das
Niveau der Armut ab von der Definition und angewandten
Methode, zeigt
der Trend doch die Richtung, in die sich eine
Gesellschaft
bewegt. Seit 2005, dem Erhebungsjahr des
Armutsberichts
und Start der Großen Koalition ist die Zahl der
Hartz-IV-Empfänger um ein Fünftel gestiegen.
RBUNZENTHAL
© Copyright Frankfurter Rundschau
Ausgabe: Stadtausgabe (Nr. 118)
Datum: Freitag, den 23. Mai 2008
Seite: 21
Die
Armut von gestern
Wirtschaftsminister verwirft
Bericht zur sozialen Lage aus dem Arbeitsministerium / Alte Daten als Grundlage
Von Michael Bergius
Berlin. Der von Bundesarbeitsminister Olaf Scholz
(SPD) kürzlich vorgelegte Armuts- und Reichtumsbericht trifft auf Vorbehalte.
Nicht nur Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) wirft seinem Kabinettskollegen
eine „tendenziöse“ und einseitige Beschreibung der sozialen Lage in Deutschland
vor. Auch aus seiner eigenen Partei schlägt Scholz Kritik entgegen.
Im Kern lautet die Aussage der Mitte Mai
präsentierten Bestandsaufnahme: Etwa 13 Prozent der Deutschen sind arm; es
wären sogar 26 Prozent, wenn der Staat nicht über diverse Transferleistungen
einspränge.
Dass es sich nur um einen vom Kabinett noch nicht
abgenickten Entwurf handelte, hatte Scholz relativ diskret kommuniziert; umso
klarer fiel dagegen sein Plädoyer aus, dass das Armutsproblem am besten durch
die Einführung von Mindestlöhnen behoben werden könne.
Der Arbeitsminister sei vorgeprescht, und die
Rohfassung entspreche „weder konzeptionell noch sprachlich den Anforderungen“
an einen Regierungsbericht, heißt es vernichtend in einer Stellungnahme des
Glos-Ressorts, die der Frankfurter Rundschau vorliegt. Wer so argumentiere wie
Scholz, leiste einer „Versorgungsmentalität“ Vorschub und schüre eine
„Neiddebatte“.
Beim Thema Mindestlohn nehme das Arbeitsministerium
eine Position ein, die nicht durch Koalitionsbeschlüsse gedeckt sei, rüffelt Glos.
Formal kritisiert er schließlich, dass der Bericht nur die Entwicklung bis zum
Jahr 2005 berücksichtige. Damit werde die seitdem eingetretene „überaus
positive Arbeitsmarktentwicklung weitgehend ausgeblendet“.
Was den letzten Kritikpunkt betrifft, steht Glos
nicht allein. Die Datenlage sei „politisch problematisch“, sagte der
SPD-Wirtschaftsexperte Rainer Wend der FR. „Der Bericht bildet die heutige
Wirklichkeit falsch ab, er suggeriert eine Situation, die objektiv nicht da
ist.“
Wend fordert daher: „Wir müssen bei diesem Bericht
entweder zeitnäher werden oder – wenn das nicht geht – zumindest deutlicher
einordnen, welche Wirklichkeit beschrieben wird.“ Was die „Struktur“ des
Berichts und die Aussagen zum Thema Mindestlohn betreffe, hat Wend kein Problem.
Eine Sprecherin von Scholz zeigte sich am Montag
wenig beeindruckt von den kabinettsinternen Sticheleien. Es sei üblich, dass
Ressortberichte mit Kommentaren von anderen Ministerien versehen würden. Man
werde die Anregungen „einarbeiten“, ließ Scholz wissen; „am Ende“ jedoch werde
sich der eigene Entwurf wohl „weitestgehend“ durchsetzen.
RBERGIUS
© Copyright Frankfurter Rundschau
Ausgabe: Stadtausgabe (Nr. 127)
Datum: Dienstag, den 03. Juni 2008
Seite: 4