Studie: Risiko der Altersarmut steigt bis 2036 auf 20 Prozent (2015: 16 Prozent)

Bertelsmannstiftung

Pressemeldung, 26.06.2017,

Reform des Ruhestands notwendig: Wandel der Arbeitswelt lässt Altersarmut steigen

Unbefristete Jobs und eine langjährige Bindung an den Arbeitsplatz
– dieses Arbeitsmodell ist für viele Menschen selbstverständlich. Doch
spätestens seit den 1990er Jahren hat es zunehmende Konkurrenz bekommen.
Mini-Jobs, lange Phasen der Erwerbslosigkeit und niedrige Löhne gehören
für eine steigende Zahl von Arbeitnehmern mittlerweile zum Alltag. Wie
sich dieser Wandel der Arbeitswelt auf die Altersarmut auswirkt und wer
davon am stärksten betroffen ist, hat eine Studie der Bertelsmann
Stiftung untersucht.

 

Gütersloh, 26. Juni 2017. Das deutsche Rentensystem ist nicht
ausreichend vorbereitet auf die steigende Zahl von Personen mit
flexiblen Arbeitsverhältnissen, unterbrochenen Erwerbsbiographien und
geringen Einkommen. Bis 2036 wird das Risiko für Altersarmut weiter
steigen. Am stärksten davon betroffen sind alleinstehende Frauen,
Menschen ohne Berufsausbildung und Langzeitarbeitslose. Doch viele der
aktuell diskutieren Reformvorschläge können den Trend steigender
Altersarmut nicht umkehren, da sie nicht zielgenau auf die Risikogruppen
und die Ausbreitung des Niedriglohnsektors eingehen. Das sind die
Ergebnisse einer Untersuchung zur Altersarmut, die auf Grundlage
repräsentativer Haushaltsdaten die Alterseinkommen aus gesetzlicher,
privater und betrieblicher Altersvorsorge von 2015 bis 2036
prognostiziert. Die Berechnungen haben die
Wirtschaftsforschungsinstitute DIW Berlin und ZEW im Auftrag der
Bertelsmann Stiftung durchgeführt.

Die Analyse bis zum Jahr 2036 liefert erstmals auch Erkenntnisse
über den Verlauf der Altersarmut der geburtenstarken Jahrgänge, der
sogenannten Babyboomer, die ab 2022 in Rente gehen werden. Laut
Studienautoren wird das Risiko der Altersarmut bis 2036 auf 20 Prozent
steigen (2015: 16 Prozent). Damit wäre zukünftig jeder fünfte deutsche
Neurentner (ab 67 Jahren) von Altersarmut bedroht. Als armutsgefährdet
gelten Rentner laut Studie dann, wenn ihr monatliches Netto-Einkommen
unter 958 Euro liegt. Parallel prognostizieren die Autoren einen
weiteren Anstieg der Grundsicherungsquote: 7 Prozent der Neurentner
könnten zukünftig auf staatliche Unterstützung angewiesen sein (2015:
5,4 Prozent), weil ihr Einkommen nicht für den Lebensunterhalt reicht.

Alleinstehende Frauen, Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte am stärksten betroffen

Als wesentlich für den Trend steigender Altersarmut nennen die
Autoren zwei Ursachen: Zum einen die Zunahme von unterbrochenen
Erwerbsbiographien und prekären Arbeitsverhältnissen im
Niedriglohnsektor. Zum anderen sinkt das Rentenniveau durch die
demografische Entwicklung und rentenrechtliche Veränderungen
kontinuierlich, während die zum Ausgleich geschaffenen Instrumente der
privaten Altersvorsorge keine flächendeckende Wirkung entfalten. "Wir
brauchen Reformen für den Ruhestand: Wenn die Babyboomer-Generation in
Rente geht, könnte es zu einem bösen Erwachen kommen. Um das
Alterssicherungssystem zukunftsfest zu gestalten, müssen wir es an die
veränderten Rahmenbedingungen der Arbeitswelt anpassen", so Aart De
Geus, Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann Stiftung.

Alleinstehende
Frauen, Langzeitarbeitslose und Niedrigqualifizierte haben insgesamt
das größte Risiko, von Altersarmut betroffen zu sein. Fast jede dritte
alleinstehende Neurentnerin könnte zukünftig auf Grundsicherung
angewiesen sein. Für sie steigt die Grundsicherungsquote zwischen 2015
und 2036 von 16 auf fast 28 Prozent. Damit ist das Risiko zur
Altersarmut bei alleinstehenden Frauen rund viermal so hoch wie im
Durchschnitt (7 Prozent). Bei Langzeitarbeitslosen steigt die
Grundsicherungsquote von rund 19 auf 22 Prozent, bei Menschen ohne
Berufsausbildung von 10 auf 14 Prozent. Auch zwischen Ost und West gibt
es starke Unterschiede. Für Rentner aus den neuen Bundesländern
verdoppelt sich das Risiko zur Altersarmut von 5 auf 11 Prozent. In den
alten Bundesländern wird die Grundsicherungsquote hingegen nur auf 6
Prozent steigen (2015: 5,5 Prozent). Laut Christof Schiller,
Arbeitsmarktexperte der Bertelsmann Stiftung, sind diese Entwicklungen
vor allem auf die Umbrüche auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt seit den
1990er Jahren zurückzuführen. Das geringste Risiko zur Altersarmut haben
Personen, die mindestens 35 Jahre in Vollzeit erwerbstätig waren
(Grundsicherungsquote 2036: 1,8 Prozent).

Rentensystem muss Risikogruppen und Erwerbsbiographien besser berücksichtigen

Für eine grundlegende Trendumkehr der steigenden Altersarmut müssten
Reformen stärker die Risikogruppen, die veränderten Erwerbsbiographien
und die Situation an den Kapitalmärkten in den Blick nehmen. "Die
aktuellen Reformdebatten gehen oft an der Wirklichkeit vorbei und lösen
kaum die grundlegenden Ursachen der Altersarmut. Diskussionen um eine
Stabilisierung des Rentenniveaus helfen Risikogruppen nicht weiter, die
schon während ihrer Berufsjahre nur schlecht von ihrem Gehalt leben
können", so Christof Schiller. Zwar sei zu begrüßen, dass die
Reformdebatte zuletzt wieder deutlich an Fahrt aufgenommen hat. Es
bleibe aber größtenteils ungeklärt, ob und wie sich die Ziele einer
künftigen Sicherung des Lebensstandards und der Armutsvermeidung im
Alter miteinander vereinbaren lassen.

Dreh- und Angelpunkt eines
niedrigeren Armutsrisikos für Rentner ist einerseits die Schaffung
flexiblerer und sicherer Übergänge im Erwerbsverlauf sowie eine
verbesserte Arbeitsmarktintegration für Risikogruppen. Gleichzeitig muss
das Alterssicherungssystem zukunftsfester und weniger krisenanfällig
gestaltet werden - sowohl mit Blick auf den Wandel der Arbeitswelt als
auch auf die aktuelle Entwicklung an den Kapitalmärkten.

Zusatzinformationen

Die Studie "Entwicklung der Altersarmut bis 2036: Trends, Risikogruppen und Politikszenarien" basiert auf einer Mikrosimulation der Alterseinkommen 2015 bis 2036, die durch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und dem Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) durchgeführt wurde. Grundlage für die Simulationsrechnungen sind repräsentative SOEP-Haushaltsdaten. Das SOEP ist eine repräsentative Wiederholungsbefragung, bei der etwa 30.000 Bürgerinnen und Bürger in fast 12.000 Haushalten befragt werden. Die Studie erfasst die Geburtsjahrgänge zwischen 1947 bis 1969. Berechnet wird der gesamte zukünftige Einkommensmix im Alter, bestehend aus gesetzlicher, betrieblicher und privater Altersvorsorge.

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