IW: Einkommensverteilung wird gleicher. Vermögen aber bleiben ungleich verteilt

 

RP 6. September 2016 | 09.39 Uhr

Analyse

Deutschland ist gleicher als gedacht

 

Deutschland: Einkommensverteilung ist gleicher als gedacht

FOTO: Ferl

Köln.
Die Kluft zwischen Arm und Reich wird in Deutschland größer, heißt es oft.
Stimmt nicht, wie aktuelle Zahlen zeigen. Die Einkommensverteilung wird
sogar gleicher. Vermögen aber bleiben ungleich verteilt.

Von Antje Höning

 

Fragt man Bürger auf der Straße, sind viele
der Meinung: Die Kluft zwischen Arm und Reich wird in Deutschland immer
größer. In einer Allensbach-Umfrage 2012 erklärten zwei Drittel, die
soziale Gerechtigkeit in Deutschland habe abgenommen und es gebe eine
Gerechtigkeitslücke. Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung (DIW), landete jüngst einen Bestseller mit seinem
Buch "Verteilungskampf - warum Deutschland immer ungleicher wird". Das
arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hält nun dagegen -
und unterzieht die Verteilungsdebatte einem Faktencheck.

Vorwurf: Die Schere zwischen arm und reich geht weiter auf. "Die
Ungleichheit der Markteinkommen ist in Deutschland über das vergangene
Jahrzehnt deutlich angestiegen", sagt DIW-Chef Fratzscher. Forscher
aller Couleur messen Ungleichheit mit dem Gini-Koeffzienten. Das ist ein
Maß, benannt nach dem italienischen Statistiker Corrado Gini. Liegt der
Koeffizient bei eins, hat einer das gesamte Einkommen eines Landes und
die anderen nichts. Liegt er bei Null, verdienen alle Bürger das
gleiche. In Deutschland liegt der Gini-Koeffizient der Markteinkommen
bei 0,49 - im Jahr 2000 waren es erst 0,46. Demnach ist die Ungleichheit
tatsächlich leicht gestiegen.

Doch diese Zahlen erzählen nur die halbe Wahrheit. Denn die
Markteinkommen umfassen nur die Einkommen aus selbstständiger und
unselbstständiger Arbeit, Kapital und Vermögen, nicht aber Renten und
Pensionen. Auch die Wirkungen der staatlichen Umverteilung sind nicht
erfasst: Dabei sammelt der Staat über Steuern und Abgaben Hunderte
Milliarden ein, die er etwa in Form von Bafög, Hartz IV, Kinder- oder
Arbeitslosengeld umverteilt.

Betrachtet man dagegen die Nettoeinkommen der Haushalte, in dem
alle Einkünfte nach Umverteilung erfasst sind, sieht die Welt anders
aus. Danach herrscht in Deutschland ziemliche Gleichheit. Der
Gini-Koeffizient der Nettoeinkommen liegt nur bei 0,29 und ist seit 2005
nahezu unverändert, betonen die IW-Forscher.

Vorwurf: In Deutschland ist die Ungleichheit besonders hoch.
Natürlich gibt es Länder (wie Schweden oder die Niederlande), in denen
die Einkommen gleicher verteilt sind, aber auch andere (wie Griechenland
oder die USA), in denen mehr Ungleichheit herrscht. Im Schnitt der
OECD-Länder liegt der Gini-Koeffzient bei 0,32 und damit höher als die
0,29 in Deutschland.

Vorwurf: Wer arbeitet, bekommt immer weniger. Die
Lohnentwicklung wird gerne als Beleg für wachsende Ungleichheit
angeführt. Laut Armutsbericht der Bundesregierung sind die realen
Bruttolohneinkommen für die unteren 80 Prozent der Vollbeschäftigten
zwischen 2007 bis 2011 gesunken. Doch inzwischen hat sich der Trend laut
IW umgekehrt. Besonders erfreulich sei, dass die ärmsten zehn Prozent
der Lohnbezieher sogar den höchsten Zuwachs verzeichnen. Danach haben
die ärmsten zehn Prozent von 2009 bis 2013 rund 6,6 Prozent mehr
Reallohn erhalten (siehe Grafik). "Mit Einführung des Mindestlohns 2015
dürfte sich diese Entwicklung weiter verstärken", so die Forscher,
wenngleich dies zu Lasten von Jobs geht. Auch die zehn Prozent reichsten
Arbeitnehmer können sich über 2,8 Prozent mehr freuen. Schlechter dran
sind ausgerechnet die mittleren Einkommensgruppen. Ihr Reallohn ist nur
um ein Prozent gestiegen.

Vorwurf: Die Mittelschicht schrumpft. Das glauben
viele, Abstiegsangst machte nach der Jahrtausendwende die Runde. Das
DIW hatte vor einigen Monaten ein dramatisches Schrumpfen der
Mittelschicht festgestellt, dann aber Rechenfehler einräumen müssen. Nun
lautet die These des DIW, dass die Mittelschicht in Deutschland von 66
Prozent der Bevölkerung zu Zeiten der Wiedervereinigung auf nun 61
Prozent abgenommen hat. Doch auch hier sind nur die Markteinkommen ohne
Berücksichtigung von Umverteilung und Vorteilen aus selbst genutztem
Wohneigentum verwendet, wie das IW betont. Bei einem konventionellen
Einkommenskonzept fällt die Schrumpfung dagegen geringer aus. Zudem habe
sich die Schrumpfung der Mittelschicht um die Jahrtausendwende
abgespielt - bevor Gerhard Schröder 2005 mit seiner "Agenda 2010"
frischen Wind in Wirtschaft und Arbeitsmarkt gebracht hat. Seit 2005
gebe es dagegen annähernd stabile Verhältnisse, so das IW.

Vorwurf: Reiche zahlen kaum Steuern. Eine
Vermögensteuer als Substanzsteuer gibt es tatsächlich nicht, auch wenn
Linkspartei und einige Sozialdemokraten sie gerne einführen wollen. Bei
der Einkommensteuer werden die Spitzenverdiener dagegen kräftig zur
Kasse gebeten: Die oberen zehn Prozent der Einkommens-Bezieher tragen 55
Prozent des Steueraufkommens. Diese Gruppe beginnt bei Einkommen von
76.472 Euro, wodurch auch Fachkräfte und höhere Beamte dazugehören, wie
das IW betont. Die untere Hälfte der Einkommensteuerpflichtigen trägt
dagegen nur 5,5 Prozent zum Aufkommen bei. Das hat gute Gründe: Starke
Schultern sollen auch mehr tragen als schwache. Nur sage keine mehr,
"die Reichen" würden sich entziehen.

Vorwurf: Vermögen sind in Deutschland besonders ungleich verteilt. Stimmt.
Eine Vermögensbefragung der Europäischen Zentralbank (EZB) von 2013 hat
gezeigt: Obwohl Deutschland das reichste Land der Euro-Zone ist,
besitzt ein Deutscher im Schnitt nur 65.000 Euro an Geldvermögen - und
damit nur etwas mehr als der Durchschnitts-Europäer. Die Niederländer
stehen dagegen mit 139.400 Euro Geldvermögen an der Spitze. In einer
anderen Befragung hatte die EZB auch die Immobilien-Vermögen mit
einbezogen - da lag das mittlere Vermögen der Deutschen sogar unter dem
der Portugiesen, Griechen, Spanier und Zyprer. Ausgerechnet der Länder,
die Deutschland und andere in der Euro-Krise retten mussten.

Doch auch hier gibt es Finessen: In den südeuropäischen Ländern
hat Wohneigentum traditionell einen höheren Stellenwert als in
Deutschland, betonen die IW-Forscher. Die Ungleichheit falle auch
weniger dramatisch aus, wenn man die Rentenanwartschaften der Deutschen
berücksichtigt. Dann liege der Gini-Koeffizient als Ungleichheitsmaß
"nur" noch bei 0,6 statt bei 0,8 - das ist immer noch hoch. Umso
wichtiger wäre es, den Bürgern den Aufbau von Vermögen durch Minizinsen
und Hürden bei Immobilienkrediten nicht weiter zu erschweren.

Quelle: RP

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