»Macht nur Sinn, wenn man zum Nulltarif fahren kann« Der öffentliche Nahverkehr könnte durch eine Art Sondersteuer finanziert werden

 

Aus: Ausgabe vom 23.09.2015, Seite 8 / Inland

»Macht nur Sinn, wenn man zum Nulltarif fahren kann« Der öffentliche Nahverkehr könnte durch eine Art Sondersteuer finanziert werden. Ein Gespräch mit Marco Böhme

Interview: Markus Bernhardt

Der Mitteldeutsche Verkehrsverbund hat zum 1.
August 2015 den Fahrpreis für das Leipziger Stadtgebiet erhöht: 2,50
Euro sind jetzt fällig

Foto: Peter Endig/ZB Funkregio Ost/dpa-Bildfunk

Marco Böhme ist Sprecher für Klimaschutz, Energie und Mobilität der Linksfraktion im Sächsischen Landtag

Sie haben Ende der vergangenen Woche an einer Veranstaltung
mit dem Geschäftsführer des Mitteldeutschen Verkehrsverbunds MDV, Stefan
Lehmann, in Leipzig teilgenommen. Bei der Tagung betonten Experten,
dass ein fahrscheinfreier öffentlicher Personennahverkehr, ÖPNV, zum
Nulltarif möglich wäre – finanziert durch eine Nahverkehrsabgabe. Was
heißt das, und was wären die Vorteile?

Zunächst muss man sagen, dass der MDV einen völlig neuen Weg
beschreiten will und faktisch urlinke Forderungen aufgreift. Die Linke
diskutiert ja schon länger über die Vorteile und Finanzierbarkeit eines
fahrscheinfreien ÖPNV. Dass das jetzt auch ein großer Tarifverbund
ernsthaft prüfen will, ist schon bemerkenswert.

Die Nahverkehrsverbände in Deutschland stehen vor gewaltigen
Herausforderungen. Die öffentlichen Zuschüsse und Querfinanzierungen
sinken seit Jahren, und die Kosten steigen. Bisher konnte das mit
sogenannten Effizienzsteigerungen – etwa durch Arbeitsplatzabbau und
Fahrpreiserhöhungen – halbwegs ausgeglichen werden. Die Spielräume der
Effizienzsteigerung sind aber erschöpft, und so wird der Druck, die
Fahrpreise immer weiter zu erhöhen, ständig größer. Um das zu vermeiden,
sucht der MDV nach alternativen Finanzierungsquellen.

So wurde über die Erhöhung der Grundsteuer für die Kommunen
diskutiert, was aber mehrheitlich als nicht sinnvoll angesehen wurde,
weil das Geld nicht zweckgebunden – und im Zweifel zur Schuldentilgung –
eingesetzt werden muss und die Grundsteuern vieler Kommunen bereits
nach oben ausgereizt sind. Ein weiterer Vorschlag, die Einführung einer
sogenannten ÖPNV-Taxe – ähnlich wie eine Kurtaxe für Hotelübernachtungen
–, ist dagegen sinnvoll und würde es ermöglichen, einen Teil der
benötigten Gelder durch den Tourismus einzutreiben. Der dritte
Vorschlag, eine allgemeine Abgabe aller Einwohner für die Nutzung und
Bereitstellung des ÖPNV zu verlangen, klingt erst einmal hart, ist aber –
wenn diese solidarisch gestaltet wird – günstiger für alle.

Und wie wäre eine solche Konzeption umzusetzen?

Zunächst dürfen wir die Wirtschaft bei einer solchen Abgabe nicht
vergessen. Pendler- und Wirtschaftsverkehre sind ja ein Hauptbestandteil
des täglichen Verkehrsaufkommens. Man müsste also auch die örtlichen
Betriebe für eine solche Abgabe zur Kasse bitten. Beispielsweise anhand
der Höhe der Mitarbeiter im Betrieb oder eben doch durch die
Gewerbesteuer. Ansonsten gilt es, dass alle Einwohner einer Stadt einen
monatlichen Beitrag leisten – egal ob sie Rad-, Auto- oder Busfahrende
sind. Die Kosten für den Einzelnen würden dann erheblich sinken. Dabei
muss man aber auch nach dem Einkommen unterscheiden. Menschen mit
weniger Einkommen sollten dann auch weniger zahlen, solche mit größerem
Budget eben mehr.

Die Nahverkehrsunternehmen könnten dann mit einer festen Einnahme
rechnen, womit sich auch das Angebot massiv ausbauen ließe, wodurch alle
etwas davon hätten.

Aber was entgegnen Sie Menschen, die nicht bereit sind, eine
Abgabe zu entrichten, weil sie den ÖPNV gar nicht nutzen wollen?
Autofahrern etwa?

Mobilität ist ein Grundbedürfnis. Es sollte nicht nur für die
Menschen möglich sein, jederzeit in die Stadt zu fahren, die sich das
leisten können. Hier sollten wir solidarisch handeln. Außerdem haben
auch Autofahrer etwas davon, wenn der ÖPNV kostengünstig oder eben zum
faktischen Nulltarif für alle zur Verfügung steht: weniger Staus, Lärm,
Abgase und mehr Platz und mehr Sicherheit in der Stadt.

Das hört sich doch eher nach Zukunftsmusik an – wann rechnen Sie mit der Umsetzung?

Natürlich ist es noch Zukunftsmusik, leider. So einfach wird es nicht
werden, das umzusetzen. Viele Kämpfe sind da noch auszutragen. Am
einfachsten wäre es sicherlich, dass der Staat generell mehr Geld aus
Steuereinnahmen von Wirtschaft und Bürgern in den ÖPNV steckt. Doch das
wird nicht passieren. Zu viele andere Ziele und letztlich die schwarze
Null von Schäuble stehen dem im Weg.

Wir müssen aber bei diesen Diskussionen außerdem aufpassen, dass
nicht am Ende nur eine Abgabe für die Bürger rauskommt und trotzdem noch
Fahrkarten für Bus und Bahn erhoben werden. Es hat nur dann einen Sinn
und wäre dann auch für die Menschen vermittelbar, wenn man dafür zum
Nulltarif fahren kann.

https://www.jungewelt.de/2015/09-23/014.php