Sozial-Initiativen
kämpfen weiter für ein billigeres Sozialticket
04.11.2011 | 12:25 Uhr
Als Wertmarke oder im Abonnement: Seit dem 1. November gibt
es im Verkehrsverbund Rhein-Ruhr ein Sozialticket. Das Projekt läuft bis Ende
2012. Sozialinitiativen beklagen, dass das Ticket zu teure ist und setzen sich
weiterhin für ein billigeres Ticket ein. (Foto: Hayrettin
Özcan / WAZ FotoPool)
Essen/Dortmund/Duisburg. Das
jüngst im VRR gestartete Sozialticket könnten theoretisch über 1,1 Millionen
Menschen nutzen - doch die Nachfrage kurz nach dem Start ist gering - weil es
zu teuer ist, wie Kritiker glauben. Sie kämpfen weiterhin für ein billigeres
Sozialticket. Diesen Samstag ist eine Sternfahrt nach Duisburg geplant.
Gemessen an der Zahl der Berechtigten, ist das Sozialticket im
Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) zwei Tage nach dem Verkaufsstart noch ein
Flop. Für 29,90 Euro können Erwerbslose und andere Berechtigte seit dem 1.
November eine Monatskarte für Bus und Bahn im jeweiligen Stadtgebiet nutzen - insgesamt,
laut Statistik mehr als 1,13 Millionen Menschen. Nach zähem Ringen hatte der
VRR das Sozialticket am 1. Oktober beschlossen.
Allerdings
hat nicht jede Kommune das Ticket eingeführt: Dortmund hat ein eigenes –
teureres - Sozialticket. In Hagen, Krefeld, Remscheid und Wuppertal haben die
Stadträte das Projekt mit Blick auf die Haushaltslage abgelehnt; im Kreis
Mettmann sind nur Monheim und Hilden im Projekt. Die Kreise Wesel und Kleve
werden das Ticket ab Dezember anbieten, wenn der VRR sein Tarifgebiet auf den
Niederrhein ausweitet.
Die Nachfrage nach Sozialtickets ist in der ersten Start-Woche jedoch noch
schlapp. Seit Mitte Oktober können Anträge auf eine Berechtigungskarte gestellt
werden. In Essen zählte man beim Verkehrsunternehmen Evag
am Mittwoch jedoch nur 838 ausgestellte Sozialtickets. 758 Nutzer wechselten
dabei von einer herkömmlichen Monatskarte auf den neuen Sozialtarif, erklärt
Sprecher Nils Hoffmann. Zudem stellt er fest, „dass wir 80 Neukunden gewonnen
haben“.
In Oberhausen
hat man beim Verkehrsunternehmen Stoag bis dato knapp
800 ausgestellte Fahrkarten registriert. Und im Kreis Recklinghausen berichtet
ein Sprecher des Verkehrsunternehmens Vestische,
bisher seien 650 Sozialtickets ausgestellt worden. Bei der Vestischen
spricht man von einem „verhaltenen Beginn“.
STICHWORT
Das Sozialticket
im VRR entspricht einem etwas abgespeckten Ticket 1000 der Preisstufe A.
Das Ticket gilt rund um die Uhr, schließt aber die Mitnahme von Erwachsenen
nach 19 Uhr bzw. an Wochenenden und Feiertagen aus. Mitgenommen können statt dessen nur bis zu drei Kinder. Das Ticket können
Personen erhalten die: Arbeitslosengeld II beziehen, Hilfe zum Lebensunterhalt
oder Grundsicherung im Alter bei Erwerbsminderung, Wohngeld erhalten oder
Jugendhilfe-Leistungen. Auch Asylbewerber und Empfänger von Unterstützung aus
der Kriegsgräberfürsorge sind berechtigt, ein Sozialticket im VRR zu
beantragen. (dae)
Der Weg zum Ticket ist unterschiedlich: Im Kreis Recklinghausen, der als
„Optionskommune“ Betreuung und Vermittlung von Arbeitslosen eigenverantwortlich
übernimmt, können Anträge und Fahrkarte direkt in den Ticketcentern der Vestischen bestellt werden. Kunden sparen also einen Weg.
In Castrop-Rauxel ist extra ein Info-Bus vor Ort, „weil wir dort kein ortsnahes
Ticketcenter haben“, sagt Sprecher Norbert Könegen.
Und in Haltern können sich Kunden an die örtlichen Partnerunternehmen der Vestischen wenden. Alle Mitarbeiter, versichert Könegen, „sind in Sachen Datenschutz geschult“. Kunden
sparen sich also einen Weg. In anderen Kommunen müssen sich Antragsteller
erst ans Amt, dann ans Verkehrsunternehmen wenden.
Unterschiede gibt es auch bei der Karte selbst: Während die Evag etwa Tickets auch im Jahresabo anbietet, gibt es
beispielsweise bei der Bogestra nur eine Trägerkarte
aus Pappe mit monatlich zu ziehenden Wertmarken ohne Abo. Eine
Jobcenter-Sprecherin in Gelsenkirchen begründet, dass sich „Kunden
gegebenenfalls innerhalb des Projektzeitraums individuell mehrmals eine
Berechtigungskarte beschaffen“ müssen – je nachdem, wann ihnen die Behörde
Leistungen zuspricht oder nicht.
Es deutet sich an, dass die Ticket-Nachfrage in den nächsten Tagen zumindest
vierstellig werden dürfte: Laut Auskunft der Jobagentur Essen wurden dort bis
dato 4555 Berechtigungsscheine ausgestellt. In Gelsenkirchen waren es zuletzt
2000 Anträge. Tatsächlich berechtigt wären NRW-weit jedoch mehrere
Hunderttausend Menschen: Alleine in Essen sind es etwa 115.000 sozial Schwache,
im Kreis Recklinghausen etwa 100.000.
Dass sie alle bald ein Sozialticket in der Tasche haben werden, erwartet man
in aber selbst in den Sozialbehörden nicht: „Wir gehen davon aus, dass sich
etwa 12.000 bis 15.000 dafür interessieren werden“, sagt die Sprecherin der
Arbeitsagentur Essen. In Gelsenkirchen geht man von höchstens 6000 Tickets aus.
Das wären etwa 20 Prozent der Arbeitslosengeld II-Empfänger in der Stadt.
Pessimistischer ist dabei Heiko Holtgrave, Vorstand
im Dortmunder Verein Akoplan,
eine von gut einem Dutzend Initiativen in NRW, die für ein billigeres
Sozialticket kämpfen: „Das Ticket wird höchstens zehn Prozent der Berechtigten
erreichen“, glaubt Holtgrave: „weil es für die
Meisten noch zu teuer ist“.
Der Protest geht weiter: An diesem Samstag, 5. November,
plant das Bündnis der Sozialticket-Initiativen eine Sternfahrt nach Duisburg.
Vor dem Hauptbahnhof ist um 14 Uhr eine Kundgebung. Die Initiativen fordern
billigere Sozialtickets. (Archiv-Foto: Gatzmanga/WAZ FotoPool)
Beispiel für Holtgraves Einschätzung ist das
Dortmunder Sozialticket, dass der Rat im Februar 2008 - bundesweit als
vorbildlich gelobt - gestartet hatte: Als der Preis des Monatstickets 2010 aus
Haushaltsgründen von anfangs 15 Euro auf 31,56 Euro heraufgesetzt wurde, sei
die Kundenzahl in Dortmund von 24.100 drastisch geschrumpft. Aktuell gebe es
nur noch rund 7500 Kartenabonnenten, sagt Holtgrave.
Zudem ist die Debatte um das Sozialticket noch nicht beendet. Das
Pilotprojekt läuft bis Ende 2012, parallel dazu sollen die Verkehrsunternehmen
in den kommenden Monaten ermitteln, ob und wie das Ticket genutzt wird.
Kommende Woche Dienstag steht auf Antrag der Linksfraktion das Ticket im Sozialausschuss
im NRW-Landtag erneut auf der Tagesordnung.
Klar ist bislang: Für die Verkehrsunternehmen wird das Sozialticket ein
Zuschussgeschäft. Der VRR beziffert die Verluste auf bis zu 11,5 Millionen Euro
pro Jahr; 7,5 Millionen Euro davor trägt das Land NRW. Alleine die Essener Evag kalkuliert bis zu 950.000 Euro weniger Einnahmen, wenn
Kunden von einem herkömmlichen Ticket 1000 auf ein Sozialticket umsteigen.
Unterdessen will das „Bündnis der Sozialticket-Initiativen im VRR“ an diesem
Samstag, 5. November, mit einer Sternfahrt
von Dortmund, Bochum, Essen, Wesel und Düsseldorf nach Duisburg für ein
bezahlbares Sozialticket werben. Für 14 Uhr ist am Duisburger Hauptbahnhof eine
Kundgebung geplant. An dem Tag soll auch eine VRR-weite
Kampagne für gänzliche freie Fahrten starten: Aufgerufen sind alle
Monatskarteninhaber, die Abends oder an Wochenenden
und Feiertagen auf ihrem Monatsticket andere Personen im Zug kostenlos
mitnehmen dürfen. Das Bündnis will dazu rote Buttons verteilen, mit denen
ÖPNV-Nutzer signalisieren können „Ich nehme jemanden mit“.