Sozialticket des VRR
wird im Ruhrgebiet zum Flopp
24.01.2012 | 17:50 Uhr
Anspruchsberechtigte können ein Sozialticket beim VRR für
29.90 Euro erwerben. Foto: Knut Vahlensieck
Das im November eingeführte Sozialticket im Verkehrsverbund
Rhein-Ruhr (VRR) geht offenbar an den Bedürfnissen der möglichen Kunden vorbei.
Es stößt bislang nur auf sehr verhaltenes Interesse. In einzelnen Städten wie
Duisburg wird es von nicht einmal vier Prozent der Anspruchsberechtigten
genutzt.
Das Sozialticket
des Verkehrsverbunds Rhein-Ruhr (VRR) erweist sich knapp drei Monate nach
seiner Einführung als Ladenhüter. Das verbilligte Monatsticket zum Preis von
29,90 Euro wird in einzelnen Städten, so etwa Duisburg, von nicht einmal vier
Prozent der Anspruchsberechtigten genutzt. An 850 000 potenzielle Kunden im
Gebiet des Verkehrsverbunds waren in den Monaten November und Dezember
insgesamt 66 000 Sozialtickets verkauft worden. Der VRR hatte bei der
Einführung des Tickets, das unter anderem Empfänger von Arbeitslosengeld II,
Sozialhilfe oder Wohngeld nutzen können, mit einer Nutzerquote von 14 Prozent
der Berechtigten kalkuliert.
Um die Einführung des Sozialtickets hatte es im Vorfeld einen lang andauernden
politischen Streit gegeben. Städte fürchteten, auf den Mehrkosten für das
verbilligte Ticket hängen zu bleiben. Kritiker hingegen fanden
die Kompromisslösung eines Tickets für 29,90 Euro überteuert und somit am
Bedarf der Anspruchsberechtigten vorbeigeplant.
Überall im Ruhrgebiet haben sich Initiativen gegründet, die ein
günstigeres Sozialticket fordern. Dabei wurde auch der „rote Punkt“
wiederbelebt. Vor 40 Jahren war er das Symbol für Aktionen, die sich gegen zu
hohe Fahrpreise im Öffentlichen Nahverkehr richteten. Jetzt ist er aus der
politischen Kramkiste hervorgeholt worden. Wer ihn als Anstecker
an Mantel oder Jacke trägt, signalisiert Protest gegen den Preis für das VRR-Sozialticket.
Gewerkschaften machen mit, im Katholischen Forum in Dortmund oder in
Szenebuchläden liegt er aus: Der rote Anstecker soll
Fahrgemeinschaften in Bus und Bahn vermitteln, erklärt Heiko Holtgrave, der in Dortmund Aktionen für ein preiswerteres Sozialticket
koordiniert. Das Prinzip: Wer über ein reguläres VRR-Monatsticket
verfügt, darf weitere Fahrgäste nach 19 Uhr oder an Wochenenden mitnehmen. Wer
„rot“ trägt, zeigt also: „Ich kann Dich mitnehmen, wenn Du Dir kein Ticket
leisten kannst.“
Dass viele Anspruchsberechtigte auf den Kauf eines eigenen „Sozialtickets“
verzichten, ist am Beispiel Dortmunds gut zu demonstrieren. Dortmund war mal
Vorreiter. Hier gab es ein von einem Rat mit rot-grüner Mehrheit erdachtes
Sozialticket für 15 Euro im Monat, das fast 25 000 Menschen nutzten.
Die Stadt aber fuhr mit dieser zusätzlichen Sozialleistung innerhalb von
zwei Jahren ein Defizit von 12 Millionen Euro ein. Dortmund sprang vom Zug und
machte sich, am VRR vorbei, dann sein ganz eigenes Sozialticket, im Rat jetzt
mit rot-bürgerlicher Mehrheit. Das Ticket ist mit 33,47 Euro im Monat noch
teurer als anderswo im VRR, gilt erst morgens ab 9 Uhr und wird nur noch von
7100 Kunden genutzt. Tendenz: leicht sinkend, so ein Sprecher der Dortmunder
Stadtwerke. Andere Städte wie Hagen verzichteten gleich ganz.
Wo man auch fragt: Das fast 30 Euro teure Ticket wird nur höchst zögerlich
nachgefragt. In Gelsenkirchen könnten es rund 60 000 Menschen nutzen, aber
nur 3458 haben bislang eines. Bochum hätte 50 000
Anspruchsberechtigte, dort wurden aber erst 3970 Tickets geordert. Schlusslicht
in ersten Umfragen ist Duisburg: Die dortige DVG hat bislang 3382 Sozialtickets
verkauft. Mindestens 95 000 Menschen hätten einen Anspruch auf das Ticket.
„Die Absatzzahlen sind mehr als bescheiden“, findet Heiko Holtgrave. Die Gründe liegen für ihn auf der Hand: „Es
wurde am Bedarf vorbeigeplant.“ Mobilität bleibe weiterhin ein Luxusartikel,
ärgern sich die Unterzeichner eines Aufrufs für ein günstigeres Sozialticket:
Mietervereine, Arbeitslosenzentren, Gewerkschaften und Sozialforen, Grüne und
Linke überall aus dem Ruhrgebiet.
5000 rote Anstecker haben sie in Dortmund
herstellen lassen, damit Ticketbesitzer und solche, die sich keinen Fahrschein
leisten können, künftig zusammenfinden. Ein Plakat soll entstehen, an eine
Mitfahrerbörse im Internet ist gedacht. Die Aktion habe weitgehend symbolischen
Charakter, sagt Holtgrave, der wirtschaftliche
Schaden für die verkehrsbetriebe werde sich in
Grenzen halten. „Aber wir wollen politisch klar machen, dass man dieses Thema
ernster nehmen muss“. Und ein bisschen erinnert es die „ein, zweiÄlteren“ in den Initiativen ja auch an frühere Zeiten.
Mit den „Rote-Punkt-Aktionen“ der frühen 70er Jahren
im vergangenen Jahrhundert gelang es zum Teil, Fahrpreiserhöhungen
zurückzudrehen.
24.01.2012 | 19:04 Uhr
Der Praxisstart des VRR-Sozialtickets passt zur
Vorgeschichte: Irgendwie will das an sich gut gemeinte Projekt, das auch den
ärmeren Menschen in der Region Mobilität ermöglichen soll, nicht gelingen.
Zuerst wurde lange in den Gremien gestritten, ob es überhaupt einen
Sozial-Fahrschein geben soll. Dann entschlossen sich mehrere Kommunen im
Verbundgebiet, es gar nicht erst einzuführen. Und auch der aktuelle Blick auf
die Verkaufszahlen des seit November erhältlichen Fahrscheins sorgt für wenig
Optimismus: Nicht einmal fünf Prozent derjenigen, die Anspruch darauf hätten,
greifen beim Sozialticket zu. Mit 14 Prozent hatte man gerechnet.
Immerhin: Die Nachfrage steigt langsam; aber man ist durchaus versucht,
schon jetzt von einem Ladenhüter zu sprechen.
Beim VRR will man vorerst Ruhe bewahren und verweist darauf, dass die
Testphase für das Sozialticket schließlich ein Jahr läuft. Dennoch wird es Zeit
für die Ticketmanager, sich Gedanken über das Warum zu machen. Der Hauptgrund
für das sich anbahnende Verkaufsdesaster liegt eigentlich auf der Hand: Selbst
29,90 Euro sind für Menschen ohne jede finanzielle Reserve offenkundig ein zu
hoher Preis für ein bisschen Mobilität.
http://www.derwesten.de/incoming/ladenhueter-gut-gemeint-von-michael-minholz-id6280728.html